»Geschaffen, die Wahrheit in dieser Welt zu leben». Rahel Varnhagen von Ense

Rahel Levin wird als älteste Tochter des jüdischen Bankiers und Juwelenhändlers Marcus Levin und seiner Frau Chaie am 19. Mai 1771 in Berlin geboren. Die Levins haben vier weitere Kinder: Marcus, Ludwig, Rose und Moritz. 

Der Familie geht es materiell gut, sie gehört zur winzigen jüdischen Oberschicht. Ihr Haus in der Jägerstraße 54 liegt in der besten Gegend, nur ein paar Minuten vom Gendarmenmarkt entfernt.

Rahels Vater ist jedoch ein unberechenbarer Tyrann, der die gesamte Familie terrorisiert. Die Mutter unterwirft sich ihm und ist kein Beistand für ihre Kinder, wenn die den Jähzorn ihres Vater abbekommen. Trotzdem ist die kluge aufgeweckte Rahel seine Lieblingstochter. 

Als er stirbt, ist sie 19 und übernimmt eine Zeit lang die Rolle des Familienoberhauptes, bevor ihr ältester Bruder Markus von der Mutter in diese Rolle gedrängt wird. Als Herrscher über das Familienvermögen bestimmt er nun auch Rahels Spielräume. Er, die Mutter und die anderen Geschwister sind wenig begeistert von der freiheitsliebenden freimütigen Rahel und versuchen sie zu zügeln. 

»Mein ewiges Verstellen, meine Vernünftigkeit, mein einziges Nachgeben, welches ich selbst nicht merke und meine Einsicht, verzehren mich, ich halt es nicht mehr aus; und nichts und niemand kann mir helfen», schreibt sie an ihren Jugendfreund David Veit, und über ihre Beschränkungen als Frau: 

»Kann ein Frauenzimmer dafür, wenn es auch ein Mensch ist? Wenn meine Mutter gutmütig und hart genug gewesen wäre, und sie hätte nur ahnden können, wie ich würde, so hätte sie mich bei meinem ersten Schrei in hiesigem Staub ersticken sollen. Ein ohnmächtiges Wesen, dem es für nichts gerechnet wird, nun so zu Haus zu sitzen und das Himmel und Erde, Menschen und Vieh wider sich hätte, wenn es weg wollte«.

Eine Möglichkeit, sich der Enge zu entziehen ist das Lesen und Schreiben. Rahel hatte keine wesentliche formale Bildung. In der Familie wurde Judendeutsch gesprochen und hebräisch geschrieben. Doch Rahel eroberte sich das Deutsche. Wie für viele andere Frauen dieser Zeit, liest sie alles, was sie in die Hände bekommen kann, Lessing, Shakespeare, Goethe, vor allem Goethe… Und beginnt selbst zu schreiben – es ist ihre Art »menschlichen Umgang zu fördern«.

Sie betritt kein eigentliches Neuland. Seit geraumer Zeit war das Briefeschreiben die erlaubte intellektuelle Tätigkeit der Frauen. Und doch wird sie die erste jüdische Schriftstellerin Deutschlands, auch wenn sie selbst sich nicht als solche sah und als Frau und Jüdin nicht wirklich am Literaturbetrieb Anteil nehmen konnte.

»Ich bin keine Schriftstellerin und wozu? Wer meine Abkürzungen, mein Verschweigen alles desjenigen, was die eigentliche Weisheit der Nichtdenkenden ausmacht, nicht versteht, meine Kreuz= und Quersprünge nicht mag – für den sprech und schreibe ich eben nicht. Meine Briefe, oder abgerissenen Zettelchen an Sie und wirkliche Vertraute, sind nur ein Stückchen Leben mit Euch; Papier und Federn sind nur ein Reisebehelf damit wir schneller zusammenkommen. Dann plaudern wie bei verschlossenen Türen. Für die heißhungrige Lesewelt sollte ich mich abmühen?«

In ihren tausenden Briefen und Tagebuchnotizen aber wird sie quasi ihre Autobiographie schreiben. So, wie sie selbst sagte: Am Ende ist »bei mir von mir alles zu finden in Briefen»

Und an Alexander von der Marwitz: »Unsere Sprache ist unser gelebtes Leben; ich habe mir meines selbst erfunden, ich konnte also weniger Gebrauch, als viele andere, von den einmal fertigen Phrasen machen, darum sind meine oft holperig und in allerlei Art fehlerhaft, aber immer echt». 

Tatsächlich hat Rahel einen eigenwilligen Schreibstil, voller Fehler,  Interpunktionen, Unterstreichungen – als würde sie sprechen, gestikulieren, auf einen realen Gesprächspartner einreden. Auch wenn sie schreibt, spricht sie – »mit dem Munde, oder mit der Feder, denn beides war ihr eins», heißt es.

Durch die Lebendigkeit und Spontanität ihrer Schreibweise, dadurch, dass sie immer genau auf den Briefpartner eingeht und auf eine Antwort besteht, sind ihre Briefe eine Art schriftliche Fortsetzung der Gespräche. Friedrich von Gentz jubilierte einmal: 

»Engel des Himmel! Ihre Briefe sind gar nicht geschrieben, es sind lebendige Menschen». 

Rahel selbst hat erst spät einige Texte anonym drucken lassen, aber mit ihrem späteren Ehemann Karl August Varnhagen zusammen einen Teil ihrer im Laufe ihres Lebens etwa 10.000 geschriebenen Briefe an fast 300 Personen und der Tagebücher zur Veröffentlichung vorbereitet. Es sind Bemerkungen zur Literatur, Kunst und Politik ebenso wie zu Fragen von Frausein, dem Alltagsleben in Berlin oder Reisebeschreibungen.

Schon drei Monate nach ihrem Tode lässt ihr Mann auf mehr als 1500 Seiten das erste von vielen posthumen Werken drucken:  »Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde«  besteht aus 450 Tagebuchpassagen und Briefe an 91 Adressaten aus einem Zeitraum von 47 Jahren – beginnend mit einem Brief der 16jährigen an ihren Bruder Marcus, und wenn es sich um Frauen handelt, sind die Adressatinnen  hauptsächlich wie sie selbst vom Judentum zum Christentum konvertierte – so wie ihre Freundin Friederike Liman. An die schreibt sie (1815):

»Wann schreibt man seinen Freunden? Wenn man etwas von ihnen will. Wer sind unsere Freunde? Die klügsten Menschen, die da wissen, was Freundschaft ist. Was ist Freundschaft? Das was sie seyn kann. Die Gabe, anderer Persönlichkeit zu durchschauen, die Tugend sie zu respektiren und anzuerkennen wie die eigene; das Glück eine gefunden zu haben, deren Wesen und bloßes Daseyn uns gefällig ist, in jeder Äußerung, im Gewähren wie im Versagen, und die wieder die Eigenschaften besitzt, und verbindet, unsere in Freyheit, d.h. in den Möglichkeiten die ihr entsprechen, ihr Daseyn zu entwickeln…» 

Das ist Rahels Programm und dazu äußert sie sich in ihren Briefen oft: nämlich dass für sie Freund­schaften, die Ehrlichkeit, Offenheit und Zutrauen beinhalten, den größten Wert bedeuten, und dass eine solche Freundschaft »die menschliche Existenz ver­doppelt«

»Ich kann niemandem mehr schuldig sein als dem, der mir Vertrauen ablockt. Den verehre ich, der entzückt mich, das ist mein geliebter Freund, dem ich alles sagen kann; dem ich sehr viel nicht zu sagen brauche, der mich ganz durchsieht.«

Mehrfach bezeichnet sie die Triebkraft ihres Schreibens und ihrer Neugier an anderen Menschen auch als »Wahrheitsliebe« und als Impuls der »Vernunft zu folgen«. Dazu gehört ständige Selbstbefragung und Interesse am Gegenüber: »Immer Gerechtigkeit für andere: Mut für uns selbst. Das sind zwei Tugenden, worin alle andern bestehen.«

Doch zurück: 

Rahels erster und langjährigster Briefpartner ist David Veit. Er ist der Neffe ihrer Freundin Dorothea und in Breslau und Berlin aufgewachsen. Er studiert Medizin in Jena, das einzige Fach, in dem Juden zugelassen waren und lebt später als Arzt in Hamburg. Veit bewundert Rahel und für die ist er ein Tor zur Welt; von ihm will sie ALLES wissen, was da draußen vor sich geht. Als ihr Briefwechsel beginnt, sind beide 22 Jahre alt.

Rahel ist sich des Mangels an formaler Ausbildung bewusst; sie meint zu wissen, dass sie nichts weiß und sucht Abhilfe bei Menschen wie Veit, die eben mehr wissen: 

»Wenn ich also unter den Haufen von Menschen, die mir vorkommen, nun endlich die zu suchen scheine, von denen ich glaube, sie wissen was, und besonders ganz was anders als ich, so ist es, um dass sie mich wenigstens von der Seite okkupieren». 

Rahel begeistert sich für Literatur, für die neuen Wissenschaften und da sie als Frau nicht studieren darf, bildete sie sich selbst durch Lesen und die Korrespondenz. 

David Veit bittet sie: »Helfen Sie mir, dass ich nicht dumm bleibe. Erst heut und gestern hab ich rasend werden wollen… dass ich nichts weiß.«

Veit berichtet ihr von seinen Reisen, er empfiehlt ihr Literatur und versucht auch ihre eigenwillige Schreibweise zu korrigieren, was nicht so ganz gelingt.

In einem Brief von 1795 fragt sie ihn: »Sa­gen Sie einmal, lieber Veit, ist ihnen wohl schon ein ungebildeter Mensch in meiner Art vorgekommen? Mir noch nicht». Oder hier: »Ich bin wie in einem Walde aufgewachsen, mir wurde nichts gelehrt«. Zugleich ist Rahel Levin auch davon überzeugt, dass »Kenntnisse die einzige Macht sind, die man sich verschaffen kann».

Kenntnisse und Wissen zu erlangen, ist für eine Frau und Jüdin in dieser Zeit alles andere als einfach und Rahel leidet unter den Beschränkungen. Schon 1795 schreibt sie an David Veit: 

»Ich habe solche Phantasien, als wenn ein außerirdisch Wesen, wie ich in diese Welt getrieben wurde, mir beim Eingang diese Worte mit einem Dolch ins Herz gestoßen hätte: Ja, habe Empfindungen, sich die Welt, wie sie wenige sehen, sei groß und edel, ein ewiges Denken kann ich dir auch nicht nehmen, eins hat man vergessen; sei eine Jüdin! – Und nun ist mein ganzes Leben eine Verblutung». 

Und an anderer Stelle an Veit: »Es wird mir nie einkommen, daß ich ein Schlemihl und eine Jüdin bin«. (…) »Und der Lahme, zu gehen gezwungen, sollte nicht unglücklich sein? Habe ich je ein lahmes Gleichnis gesehen, so ist es dieses; es hinkt so, daß man mein Unglück nicht im geringsten daraus sehen würde, wenn mans nicht kennt«. 

Die Levins waren assimiliert, wenn auch niemand in ihrer Umwelt sie vergessen ließ, dass sie Juden waren. Erst mit 23, anlässlich einer Reise mit ihrer Mutter und der Schwester Rose zur Familie ihres Onkels Liepmann Meyer in Breslau lernt sie 1793 das traditionelle Judentum kennen. Die Familie des On­kels ist orthodox und besitzt in Breslau eine eigene Synagoge. Rahel ist die Welt der Orthodoxie  völlig fremd. In ihren Briefen aus Breslau spricht sie nicht von »Juden« oder »jüdisch«, sondern von »Böhmen« und »böhmisch« (möglicherweise abgeleitet vom hebräischen Wort »Behemot» – »Rindviehcher»;  gemeint sind primitive Menschen). Das alles hier sind ihr, die aus dem modernen Berlin kommt, jedenfalls auch böhmische Dörfer. Sie mokiert sich über die »gräßliche« Lebensart, über Frauen, die ihre Haare bedecken, über das »Geschrey« (das eigentlich Gebete sind), über die Enge, den Schmutz, den Mangel an Bildung, das Federvieh auf den Straßen usw. 

»Als wir zu haus kamen setzt ich mich dumm auf einen Stuhl und wartete, daß die Zeit flöße, der Stuhl stand an einen fenster, dieses fenster fürte auf der Gaße, diese Gaß war voll von geschrey. Dieses Geschrey kam aus lauter bömische Münder»…  »in aller frühe hör ich ein heftig lerm auf diesen kleinen hoff, nach welchen wir das fenster auflaßen mussten, weil wir vor Hitze den abend nicht dauren konten, ich horche und höre, daß sich eine Menge Böhmen zanken».

Oder ein Brief, in dem sie von einer Hochzeit berichtet, zu der sie der Onkel mitgenommen hatte: »Ich ging aus Neugierde; jüdisch, eng u.s.w. – die Aufnahme, als käme der Großsultan in ein lang verlassenes Serail, mich beschämte das: Hitze zum Sticken.» 

Scham war es also, das Berliner Juden wie Rahel den armen zurückgebliebenen Glaubensbrüdern gegenüber empfanden. Der »Ostjude« ist jemand, der nicht zum Selbstbild des aufgeklärten, westlichen Judentums passte. Seine Figur verkörperte all das, was die assimilierten deutschen Juden gerade überwunden hatten.

Damit will auch Rahel nichts zu tun haben. Sie fühlt sich wohler zB. in adliger Umgebung. 

Rahel hatte schon als Jugendliche schweres Rheuma und musste mindestens einmal im Jahr zur Kur. Ein Jahr nach Breslau reist sie 1795 zusammen mit der Schauspielerin Friederike Unzen­mann ins böhmisches Teplitz, wo sich alles trifft, was »dazugehört« oder dazugehören will. Diese Reise ist eine Etappe »heraus« aus dem Judentum und »hinein in die Welt«. 

Rahel genießt die gepflegte und gebildete Umgebung, sie möchte dazugehören. Und kann sich noch nicht recht eingestehen, dass ihre Weltläufigkeit, ihre Wahrhaftigkeit und ihre Inteligenz ihr nicht helfen – dass sie aus einer anderen Welt kommt und auch hier eine Fremde bleibt. »Ich bin eine Falschgeborene«, wird sie später schreiben.

Und an ihre im Ausland lebende Freundin Pauline Wiesel (1810): 

»…groß verfuhr die Natur mit uns beiden. Und wir sind geschaffen, die Wahrheit in dieser Welt zu leben. Und auf verschiedenem Wege sind wir zu einem Punkt gelangt. Wir sind neben der menschlichen Gesellschaft. Für uns ist kein Platz, kein Amt, kein eitler Titel da! Alle Lügen haben einen: die ewige Wahrheit, das richtige Leben und Fühlen, das sich unabgebrochen auf einfach tiefe Menschanlagen, auf die für uns zufassende Natur zurückführen lässt, hat keinen! Und somit sind wir ausgeschlossen aus der Gesellschaft…«

Am Ende des 18. Jahrhunderts bahnt sich in der gesellschaftlichen Stellung der Frau eine revolutionäre Wandlung an. Frauen als Persönlichkeiten der Gesellschaft gab es vorher so gut wie nicht. Die Frauen konnten im besten Falle durch die Ehe Öffentlichkeit erlangen. 

Und Leute, wie Johann Gottlieb Fichte zB., den Rahel bewundert, halten nichts von denkenden Frauen. Für Fichte besteht die Würde der Frau im Dienen, in der »unbegrenzten Unterwerfung« und Juden gehören ohnehin nicht in die Spähre der freien selbstverantwortlichen Bürger, sie möchte der Philosoph am liebsten ins Gelobte Land schicken. Mit dieser Ansicht ist er nicht allein.

Rahel spürt die Benachtei­ligung als Jüdin und als Frau auf jedem Schritt. Berechtigt fragt sie einmal: »Wenn Fichtes Werke Madame Fichte geschrieben hätte, wären sie schlechter?«

Nun – in der Zeit der Aufklärung – aber nimmt die Präsenz der geist­vollen Frauen in der Öffentlichkeit dennoch zu. Der Anteil an Salons, die von jüdischen Frauen geführt werde, ist hoch: Henriette Herz, Dorothea Schlegel, Sarah Levy, Amalie Beer und eben Rahel Varnhagen. Sie, denen in den Männer-Salons als Frauen nur die Rolle von Zuhörerinnen blieb und die als Jüdinnen apriori aus den aristokratischen deutschen Salons ausgeschlossen waren, beginnen nun also einfach ihre eigenen Salons zu etablieren…

Ihren ersten literarischen Salon führt Rahel zwischen 1790 und 1806 und deutlich bescheidener als die anderen Frauen – in der Dachstube ihres Elternhauses in der Jägerstraße. Er entwickelt sich aus ihrem Freundeskreis und dank ihrer Fähigkeit, interessante Menschen um sich zu versammeln, wurde er der bekannteste und bedeutendste Berliner Salon. Die Gesellschaft bei Mademoiselle Levin ist gemischter als andernorts, denn Rahel sucht die Menschen nicht nach ihrem Rang, sondern nach ihrem eigenen Maßstab aus – nach künstlerischen, intellektuellen, vor allem aber menschlichen Qualitäten – und verstößt damit auch mehr gegen Etiquette und Konvention als die anderen Salonnieren.

 

«Nichts freut mein Herz so sehr als wenn sich meine Freunde anerkennen; und ich kann triumphierend sitzen und denken, du bis die Erste, du hast den entdeckt; und nun müssen sie ihn lieben! Oft hab ich Heterogen scheinendes vereinigt; oft aber, wollten die besten Seiten an den Menschen nicht zu einander passen. . . daher fühl ich mit lebendiger Freude, wenn es mir gelingt, meine Lieben in Liebe füreinander zu entzünden, und wenn sie meiner bestimmen und huldigen müssen

Wenn es sein musste, gestand Rahel ihren Gästen auch mal schlechte Laune zu, stummes melancholisches Beiseitesitzen oder ein gerüttelt Maß an Widerspruch. Nur zuhören mussten sie, nur begriffsstutzig und überheblich durften sie nicht sein. 

»Ein gebildeter Mensch ist nicht der, den die Natur verschwenderisch behandelt hat; ein gebildeter Mensch ist der, der die Gaben, die er hat, gütig, weise und richtig und auf die höchste Weise gebraucht: der mit festen Augen hinsehen kann, wo es ihm fehlt, und einzusehen vermag, was ihm fehlt.«

Ihr späterer Mann, Karl August Varnhagen von Ense, hat eine typische Anekdote festgehalten, die Rahels Anspruch und Schlagfertigkeit demonstriert:

»Friedrich von Raumer stritt gegen Rahel mit sehr seichten und gemeinen Aussprüchen (…) über den Schritt seines Bruders, der aus einem Mineralogen ein Pädagog geworden. Man solle bei dem bleiben, meinte er, wobei man hergekommen, man könne nur Eines recht sein, nicht aber das Eine und auch das Andre. (…) Nachdem er sich in Albernheiten und Schiefheiten erschöpft, fragte er unter andern auch: ‚Zum Beispiel ich! Was könnt’ ich für ein andres Fach noch zu meinem hinzufügen? Sollt‘ ich noch etwas werden? Was meinen Sie, daß ich noch werden könnte und sollte? Schlagen Sie mir was vor!‘ – O ja! erwiderte Rahel mit größter Unschuld, ein Denker! Werden Sie ein Denker! – Er verstummte.«

Lebenslang schwankt Rahels Selbstwertgefühl zwischen Überheblichkeit und Zerknirschung. Aber ihre Begabung als Gesellschaftsdame, ihre Fähigkeit, zuhören zu können und sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen, waren ihr bewusst. An Brentano schreibt sie: 

»Ich liebe unendlich Gesellschaft und von je, und bin ganz überzeugt, dass ich dazu gebohren, von der Natur bestimmt und ausgerüstet bin. Ich habe unendliche Gegenwart und Schnelligkeit des Gei­stes um aufzufassen, zu antworten, zu behandeln. […] Ich bin bescheiden und gebe mich doch preis durch Sprechen und kann sehr lange schweigen und liebe alles Menschliche, dulde beinah alle Menschen»

Zu diesen Menschen gehören Dichter, Naturforscher, Politiker, Gesellschaftsgrößen und Aristokraten, die hier auf einer Ebene miteinander verkehren – u.a. Jean Paul, Ludwig Tieck, Friedrich Schlegel, die Brüder Humboldt, Ludwig Börne und der Fürst Hermann von Pückler-Muskau.

»Mit welcher Freiheit und Grazie wusste sie um sich her anzuregen, zu erhellen, zu erwärmen! […] Kolossale Sprüche hörte ich von ihr, wahre Inspirationen, oft in wenigen Worten, die wie Blitze durch die Luft fuhren, und das innerste Herz trafen», so beschrieb Graf Salm die junge Rahel Levin.

Aber es ging nicht nur um Musik oder Literatur. Rahel beriet und tröstete ihre Freunde ganz praktisch auch in Liebesdingen und sie hatte selbst x unglückliche Liebschaften.  

»Man ist nicht eifersüchtig, wo man liebt, aber da, wo man geliebt sein will.« – ist auch so eine berühmte Sentenz von ihr.

1796 lernt sie bei einer Aufführung in der Oper Unter den Linden – sie liebt Opern –, Karl Graf von Finckenstein kennen. Und verliebt sich unsterblich. Sie werden ein Paar und bald geht er in der Jägerstraße ein und aus. Einerseits fühlen sich die Levins geschmeichelt, andererseits fürchten sie um Rahels Ruf.

Unter den jüngeren Gebildeten setzt sich in dieser Zeit zwar die romantische Überzeugung durch, dass nicht Konvention und bisherige Moralvorstellungen, sondern echte Gefühle für eine Beziehung ausschlaggebend sind, und es gibt x Beispiele – wie Dorothea Schlegel, die Tochter Moses Mendelssohns, die erst auf Wunsch ihres Vaters den jüdischen Kaufmann Simon Veit heiratete, sich dann aber scheiden ließ, um mit dem nichtjüdischen Friedrich Schlegel zusammen zu leben, oder Frau von Stein, die sich öffentlich zu Goethe bekennt. 

Aber Rahels Eltern sind froh, als sowohl sie als auch Karl sich aus Krankheitsgründen ein halbes Jahr lang nicht sehen können. Aber irgendwann sind beide wieder in Berlin vereint. Finckenstein ist noch immer romantisch verliebt und Rahel sieht in der Beziehung zu ihm, der ihr geistig nicht gewachsen ist, eine Chance, der Willkür der Familien, dem Alleinsein und dem Jüdischsein zu entkommen. »Man muss doch heraus« aus der jüdischen Nation, hatte sie an Veit geschrieben, und an ihren Freund Brinckmann: »Ein Schmerz ist es aber doch, alles so allein zu genießen, zu sehen, zu hören!«

Eine Gräfin Finckenstein zu sein, würde sie von all dem erlösen. Zudem ist sie nicht mehr die Jüngste, ein »spätes Mädchen«. Doch Karl hält die Beziehung in seinen Kreisen geheim, er besucht sie, sie darf ihn aber nicht besuchen. In der Öffentlichkeit siezt man sich und als Rahel das fehlende Bekenntnis zu ihr zu bunt wird, beginnt sie ihn auch in ihren Briefen zu siezen. 

Finckenstein will sich nicht entscheiden, er genießt den Augenblick und will so leben, wie er es gerade tut – bloß nichts verkomplizieren.

Dann kommt die Gräfin Pachta nach Berlin, Rahel hatte sich auf der Kur in Teplitz mit ihr angefreundet, und die rät ihr, sich dem Grafen zu entziehen, damit er begreife, was er an ihr hat. Rahel hört auf sie und lässt Karl wissen, dass sie ihn nicht mehr sehen wolle, bis er sich entschieden habe. Der reagiert entsetzt, ist außer sich vor Schmerz. Aber Rahel bleibt hart, bis er aus Berlin versetzt wird und sie überredet, ihn zu treffen. 

Um es kurz zu machen. Das Spiel geht weiter hin und her. Doch für die konservativen Finckensteins ist es ein Unding, dass eine nicht mehr ganz junge, nicht ganz jungfräuliche, nicht ganz koschere Frau in die Adelsfamilie einheiratet. Und Geld haben sie selber.

Rahel ist wütend, beschimpft Karl, beteuert aber auch, ihn mehr als je zuvor zu lieben. Die Sehnsucht nach dem Glück und die Aussicht, ihrem Geburtsmakel zu entkommen, macht sie wohl auch blind.

Im Frühjahr 1799 werden seine Besuche immer seltener, auch wenn er ihr immer noch vage Versprechungen macht, im Herbst wird er nach Wien versetzt. Im Februar 1800 findet sie endlich die Kraft, das Band von sich aus ganz zu zerreißen. »Die Jahre, die du weg bist, will ich dazu anwenden, unbekannt mit Dir zu werden. Überreden kannst Du mich nicht mehr.«

Im Sommer beschließt Rahel, nach Paris zu reisen… Sie will vergessen, die »Schande« hinter sich lassen. Der Weg »Hinein in die Welt» durch Heirat und Liebe ist gescheitert. Sie geht in die »Fremde», schreibt Hannah Arendt, um »Bürgerin» zu werden. »In der Fremde hieß ihre Herkunft: Berlin, in Berlin hieß sie: Judengasse. Um also Berlinerin zu werden, »Bürgerin», Preußin, musste sie weg aus Berlin, alles verlassen… » 

Aus Paris schreib Rahel im Juli 1800 an eine Freundin: »Ich muss alles, was ich kenne, was ich liebe, was mich ärgert und kränkt, reizt und freut, verlassen! – Um nichts. In keiner Hoffnung. Es ist eine Art Tod. Das Schmerzliche davon ist es: das Schreckliche und Erhabene davon hat es nur nicht. Sterben muss ich: aber tot werd ich nicht sein. Ich weiß die Sache geht weiter. Nun! es gibt geborne Krieger und geborne Gärtner, ich muss zu Schlacht! – und als Gemeiner – still den Kanonenkugeln entgegen stehen. Wem ich gehorche, weiß ich nicht; aber geschoben werd ich, nicht kommandiert. – Alles geht hier auseinander. K`n schreib ich nicht mehr und er mir auch nicht. Ich habe wie Posa verloren. Und möchte doch nicht zu den Menschen gehören, die nicht sich auf das Spiel setzen. Alle, die ich hier liebte, haben mich mißhandelt. Sie wissens nicht: ich sag es nicht; drum geh ich. Glaube nur nicht, daß ich hoffe, dort würd ich würdig empfangen: Gott bewahre! die Komödie geht von neuem los; lieben muss ich. Nur bei dieser Truppe durft ich nicht mehr bleiben. Ins Unwürdige darfs doch nicht übergehen? Adieu! 

An die Schwester Rose, die gerade den jüdischen Juristen Karl Asser geheiratet hatte, schreibt Rahel:

Deinen Brief hab ich erhalten: und bin sehr froh, daß du froh bist! Also du hast Glück. (…) Ich gratuliere dir! Ich schreibe nicht gerne; du siehst es wohl: ich werde sehr traurig: denn ich bins. Und in Paris hab ich dies bis zu einem Grade der Gewißheit erfahren, die keinen Zusatz erlaubt, und bedarf. (…) Es ist keine von den Traurigkeiten, die wieder vergeht; (…) Die Reise nach Paris war nur der letzte Pulsschlag eines frischen Herzens; nun bin ich hier, nun ist es aus.

Dennoch tut ihr Paris gut. »Leicht ist es, das Leben in der Fremde zu lieben.« Hier kann man ein »Niemand« sein, seinen Namen ablegen, und verlieben kann man sich ohne Gefahr. Und durch die Liebe lernte sie den Genuss kennen. Doch zurück in Berlin, scheitert eine weitere Liebesgeschichte mit Friedrich von Gentz an dessen »Verrat« wegen ihrer jüdischen Herkunft. Die Muster sind im Prinzip immer gleich:

Wie beim Rahels nächstem großen Reinfall mit dem schönen spanischen Gesandtschaftssekretär Don Raphael D’Urquijo. Als Ausländer spielt ihre jüdische Herkunft für ihn zwar keine Rolle, aber er ist äußerst eifersüchtig und sieht in jedem ihrer vielen Freunde einen Liebhaber und er hat ganz bestimmte Vorstellungen über die Unterordnung der Frau unter den Mann, die Rahel nicht teilt. 

Aus heutiger Sicht und aus der Ferne kann man sich schwer erklären, warum Rahel so an dem beschränkten Spanier hing und ihn anhimmelte, auch jenseits des verständlichen Versuchs, ihrer jüdischen Geburt durch Heirat zu entkommen. Die Missverständnisse und Liebesschwüre zwischen beiden gehen jedenfalls endlos hin und her gehen.

Rahel an Don Raphael, 1802:

Der Augenblick Ihres Fortgehens war grausam. Warum hatte ich nicht den Mut, Sie noch einmal zurückzurufen! … Jeder hat mehr Mut als wir beide. Ich liebe Sie: es gibt Augenblicke, wo ich nicht an mein Glück glauben kann! von Ihnen geliebt zu werden. Ich hoffte es nicht. Ja, lieben Sie mich! und Sie werden sehr glücklich sein, ich bin besser, als Sie  wissen: da ich geboren bin, um Sie zu lieben.

Ein Jahr später 1803:

Alles, was ich Dir sagen kann, mein geliebter Freund, ist: ich liebe Dich. Ich fühle es: stärker als je! Das ist das Glück meiner Seele. Ich wäre völlig glücklich, wenn Du es sein könntest; wenn Du es  durch mich sein könntest. Alles will ich tun, angebeteter Freund, um Dich wenigstens für Deine  Leiden zu belohnen! Sprechen wir nicht mehr davon! Ich denke nur an Dich! … Teurer Liebling. Wenn ich Dir doch Deine Ängste nehmen könnte!

Ein weiteres Jahr, 5.1.1804:  Ja, Gunst ist mir widerfahren! Du hast bei mir geschlafen. Du wurdest gehütet von der Liebe, Deiner Schwester, Deiner Frau, die Dein ist wie das Herz, das Du in deinem Busen trägst. Ich habe Dich angeschaut, während Du schliefst: Du warst ruhig. Wo willst Du es sein? Es war bei Deiner Rahel! Die Luft brannte von Zärtlichkeit, von Wohlwollen. Und ich betete dabei zu Gott; ich war voller Wonne, ich sah Dich an, meine Seele schwang sich in die Deine; zu ihrem Gott… Die Inbrunst des Herzens bildet die Religionen, gewinnt die Schlachten, gründet die Welt, bildet alle heiligen Bande: überwindet alles. Solange ich lebe, werde ich sie haben: also habe ich Hoffnung. Schlafe wohl, holder Liebling, für den ich bete und atme… Du bist mein einziger Gedanke.

Letztlich war der Überschwang der Gefühle einseitig. Don Raphael behandelt sie schlecht, demütigt sie. Die Verlobung geht endlich in die Brüche. 1804 trennt sie sich – und leidet allein weiter.

Zudem gab es nun andere Probleme. Denn 1806 war vorläufig auch Schluss mit den Salons. Napoleon hatte die Preußen besiegt, seine Truppen marschieren in Berlin ein, die Freunde haben andere Sorgen und verstreuen sich in alle Welt.

Rahel verkracht sich mit der Familie, zieht zum ersten Mal in eine eigene Wohnung, sie ist 37. Der Staat erhöht die Steuern, um die Kriegsschulden tilgen zu können und auch die Levins haben jetzt weniger Geld zur Verfügung; das ist Rahel  nicht gewohnt. Sie wird in zahlreichen Briefen über die Einschränkungen klagen. Sie muss in eine billigere Wohnung ziehen, kann sich nicht mehr leisten, Leute einzuladen und will ohne Wagen und Bedienstete auch nicht bei anderen erscheinen. 1811 ist sie am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen. Und sie leidet an Migräne und Rheumatismus.

Davor, 1808, hat Rahel – sie ist inzwischen 37 – den 14 Jahre jüngeren Diplomaten, Historiker und Publizisten Karl August Varnhagen kennengelernt, der, nachdem er in den Adelsstand erhoben worden war, Karl August Varnhagen von Ense hieß, und der ihr »Prophet« und  »Priester« werden wird.

Rahel ist unglücklich über das Ende ihres Salons, ihrer letzten Beziehung und die Familienstreitigkeiten. Die Aufmerksamkeit von Varnhagen, der sie fast täglich besucht, tut ihr gut, sie ist vielleicht nicht verliebt, aber gerührt. Und er klebt an ihr. Als er Berlin verlassen muss, um sein Studium in Tübingen zu beenden, merkt sie, was sie an ihm hat. Sie schreibt ihm:

Du bist der Einzige in der ganzen Welt, der mich je lieb hatte, der mich behandelt wie ich Andere… Von Dir lernte ich geliebt sein, und du hast Neues in mir geschaffen… Ich könnte mein Leben mit Dir zubringen, es ist mein sehnlichster, ernster, jetzt einziger Wunsch…«.

Aber es dauert noch sechs Jahre und etliche Wirrungen, bevor sich dieser Wunsch erfüllt, eine Zeit, in der sich beide nicht häufig zu sehen bekommen und sich aberhunderte Briefe schreiben. Offiziell ist ihre Beziehung immer noch nicht, Varnhagen hat zwischendurch andere Geliebte und kann sich nicht entscheiden und Rahel läuft die Zeit weg. Sie verliebt sich inzwischen in Alexander von der Marwitz und der sich in sie. Wieder folgen heiße Liebesbriefe, und Varnhagen soll diese Liebe akzeptieren (doch Marwitz wird 1814 fallen).

Zugleich beflügelt Rahel ihn, sich ein Adelsprädikat zu besorgen, schließlich hat Varnhagen in einem alten Wappenbuch Beweise dafür gefunden, dass er einem Adelsgeschlecht entstammt und sie hilft ihm mit ihren Verbindungen, als Diplomat Fuß zu fassen. Sie beweist ihm quasi, wie nützlich und unersetzlich sie für ihn ist und erkennt auch, dass er, der leidenschaftliche Sammler, dem sie alle ihre Briefe übergibt, ihr nützlich sein kann, nicht nur als Ehemann, sondern als Verwalter ihres Ruhmes. Sie will ihre Briefe publiziert sehen. 

»Nicht weil es mein Leben ist, aber weil es ein wahres ist; weil ich auch vieles um mich her oft, mit kleinen unbeabsich­tigten Zügen, für Forscher, wie ich einer bin,·wahr und sogar geschicht-ergänzend aussprach. Und endlich, weil ich ein Kraftstück der Natur bin, ein Eckmensch, in ihrem Gebilde der Menschheit… Ich aber selbst will aus meinen Briefen alles suchen und verwerfen, und nicht in vierzig, fünfzig Jahren … sondern viel früher; ich will noch leben, wenn man`s liest.»

Zunächst aber, während der Befreiungskriege 1813/14 flieht Rahel nach Prag. Erst versucht sie sich Napoleon als Sieger und Vertreter der Aufklärung anzuschließen, während ihre früheren Freunde wachsendem Chauvinismus verfallen und sie in zunehmende Isolation gerät. Dann begegnet sie Fichte, dessen Vorlesungsreihe »Reden an die deutsche Nation« gerade große Erfolge feiert und übernimmt von ihm eine philosophische Form des Nationalismus. Träger der neuen Welt sei nicht Geschichte oder Stand, sondern die Nation. Dies gibt auch Rahel die Chance dazuzugehören. 

Die Lazarette sind voll mit Verwundeten und Rahel beschließt zu helfen und ihre neu erworbene Vaterlandsbegeisterung zu zeigen. Sie kümmert sich um Verwundete, schreibt Bettelbriefe und sammelt Geld. An einen französischen Kriegsgefangenen in Prag schreibt sie (1813):

»Mein Herr! Es ist kein Französin, die Ihnen dieses kleine Paket zukommen lässt, es ist eine Preußin, die den Krieg verabscheut und all seine Opfer beklagt. Ich bin Berlinerin und kenne sehr wohl den Befehl, den Ihre Truppen erhalten hatten, unsere Stadt zu zerstören, falls Ihnen der Sieg zufallen sollte, wie Gott ihn für diesmal uns geschenkt hat. Sie sollen auch wissen, mein Herr, daß viele meiner Landsleute den Krieg nichts als verabscheuen und einzig danach streben, die Übel zu mildern, die er verursacht. Auf daß ein guter und rascher Frieden Sie in Ihre Heimat zurückführen möge!« 

Rahel Varnhagen lehnt Krieg, Franzosenhass und »Patriotenwut«, wie sie es nennt – im Gegensatz zu den meisten ihrer Zeitgenossen – ab: »Es wird eine Zeit kommen, wo Nationalstolz ebenso angesehen werden wird wie Eigenliebe und andere Eitelkeit, und Krieg als Schlägerei«, schreibt sie später, und »Frieden will ich und jeden Sohn bei seiner Mutter«.

Doch zum grassierenden Nationalstolz gehört auch der patriotische Antisemitismus, dem auch Fichte nicht fernstand, und der vergiftet die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden weiter, obwohl Juden seit 1812 mit dem Toleranzedikt allen anderen Bürgern juristisch gleichgestellt worden waren. 

Auch der ihr einmal sehr zugetane Clemens von Brentano ist unter den Hetzern. Juden sind für ihn »von den ägyptischen Plagen übrig gebliebene Fliegen« und in Rahels »falscher Geburt« sieht er den Grund für alles »Unschöne« ihres Charakters, von dem sie nur die Taufe befreien kann.

Zum Glück ist da Karl August Varnhagen. Noch in Prag verloben sie sich und so kann sie an Brentano schreiben: »Nur Einer in der ganzen Welt erkennt mich an: daß ich eine Person seyns soll; will nicht nur einzelnes von mir gebrauchen, verschlucken, liebt mich, wie die Natur mich geschaffen hat und das Schicksal behindert; sieht dieses Schicksal ein; will mir den Rest von Leben noch lassen, gönnen, erheitern, dem Himmel entgegen tragen; will für das Glück, mein Freund zu seyn, mir alles seyn, leisten und lassen. Dieser ist der Mensch, den man meinen Bräutigam nennt. »

Zurück in Berlin spricht Karl August dann bei Rahels Bruder Markus, dem Familienoberhaupt vor, er hat die Aussicht in den preußischen Staatsdienst übernommen zu werden, und die Roberts sind froh, das späte Mädchen unter der Haube und versorgt zu sehen. Dass sie dafür konvertieren muss, ist selbstverständlich und wird akzeptiert. Ehen zwischen Juden und Christen sind ja nach wie vor nicht zulässig und schließlich geht so auch Rahels Traum in Erfüllung.

Am 23. September 1814 wird die »in der jüdischen Religion geborene Jungfer Rahel Robert Tornow« in der Evangelischen Gemeinde Jerusalem in Berlin den Namen »Rahel Antonie Friederike« empfangen. Endlich ist sie heraus aus der verachteten »Nation«, der »Makel« der Geburt getilgt. »Unser ganzes Glück, unsere Liebe wird jetzt auf dem bürgerlichen Amboß bereitet, damit die Bürger es passieren lassen.» 

Über die Dringlichkeit der Taufe und Namensänderung – aber auch über Loyalität zur ihrem »Herkunftstamm« erfahren wir etwas in einem Brief, den sie vier Jahre später an Ernestine Goldstücker, die ebenfalls zum Christentum übertreten will, schreibt:

»Ich halte diese Namensveränderung für entscheidend wichtig. Sie werden dadurch gewissermaßen äußerlich eine andere Person; und dies ist besonders nötig. (…) Sie lassen auch die Kinder mittaufen. Die sind ja schon christlich erzogen; und müssen, wo möglich, von jenem Verrückhistorischen nichts anders erfahren, als wie von Historie überhaupt! – Sie aber haben gar keine Ursache, in dem Scheine des Geburtsglaubens bleiben zu wollen. Sie müssen sich auch äußerlich an die Klasse halten, sich zu der großen Klasse bekennen, mit der Sitten, Meinung, Bildung, Überzeugung Sie Eins sind. Sie werden dadurch in das einzige Schlechte, welches dieses Bekenntnis nach sich führen könnte, in den neuern Judenhaß, nicht miteinstimmen; und noch immer den unseligen Überbleibseln (ich möchte sagen Warnungszeichen für Staatengründer) einer großen, begabten, und weit in Gotteserkenntniß vorgeschrittenen Nation, beistehen; (…) Sie werden sich Ihrer jüdischen Geburt nicht schämen, und die Nation, deren Unglück und Mängel Sie dadurch genauer kennen, darum preisgeben, damit man nicht sage, Sie haben noch Jüdisches an sich!

Die Bereitschaft »die eigene Identität vollkommen auszulöschen«, »den Vorurtheilen der Gesellschaft« so weit entgegen zu kommen, »daß man sich beinahe aus der Welt geändert hat«, hat Grenzen. Rahel besteht darauf, sich der »jüdischen Geburt nicht zu schämen». Sie lehnt es ab, sich daran zu assimilieren »mit allen Konsequenzen der Verleugnung des eigenen Ursprungs, des Solidaritätsbruchs mit denen, die es nicht oder noch nicht geschafft haben».

Vier Tage nach ihrer Taufe jedenfalls heiraten Rahel und Karl August – jetzt ist sie Frau Varnhagen von Ense – und reisen nach Wien ab, wo Karl in Diensten steht: Es ist die Zeit des Wiener Kongress. Ein Jahr später wird er nach Paris versetzt, Rahel wird diese Zeit in Frankfurt verbringen. 

Hier trifft sie, wenn auch nur kurz ihren »Gott« wieder: Johann Wolfgang von Goethe. Rahel Varnhagen war eine große Goethe-Verehrerin. Auszüge aus ihren Briefen, die seinen Roman »Wilhelm Meister« betrafen und die Varnhagen 1812 in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände publiziert, bestärkten Goethes Ruhm als Weimarer Dichterfürst. 

Und schon als junge Frau in den ersten Briefen an David Veit hatte sie über Goethe geschwärmt, sie las buchstäblich alles von ihm und erkannte sich in vielen seiner Frauengestalten wieder. Und sie wollte ihn nur zu gern persönlich kennenlernen, aber: 

»Niedli­cher als alles aber ist, dass ich ein Mädchen bin und in meiner Situation, ein Judenmädchen. Sie haben recht; lächerlich könnt ich mich wohl machen, und sie wissen, ob ich das mehr scheute, und mich nicht doch drüber weg­ setzte; aber was soll der Mann denken, als was mich ihm präsentieren». 

Begegnet ist sie ihm trotzdem, außer in Frankfurt drei mal, wenn auch nur kurz, 1795, als sie zur Kur in Teplitz ist (sie wird es ein Glück und ein Wunder nennen), 1825 in Weimar auf dem Weg zu einer Kur in Baden-Baden, und 1829. Wirkliche Gespräche kamen dabei nie zustande, zu groß war ihre Ehrfurcht vor dem Meister. 

David Veit jedoch wird Goethe einmal nach seiner Meinung über Rahel fragen und der wird antworten: 

»Sie ist stark in ihren Empfindungen und doch leicht in ihrer Äußerung. Jenes gibt ihr eine hohe Bedeutung, dies macht sie angenehm. Jenes macht, daß wir an ihr die große Originalität bewundern, und dies, daß diese Originalität liebenswürdig wird, daß sie uns gefällt […] Sie ist, soweit ich sie kenne, in jedem Augenblick sich gleich, immer in einer eignen Art bewegt und doch ruhig – kurz, sie ist, was ich eine schöne Seele nennen möchte.« 

(Rahel Varnhagens allumfassende Verehrung für Goethe, die sie auch von ihren Freunden verlangte, ist ein Grund für den Goethe-Kult der deutschen Juden, der bis zur Nazizeit anhielt.)

Bald wird Karl von Paris nach Karlsruhe an den badischen Hof versetzt. Die Leute hier kommen Rahel dürftig, bösartig und dumm vor. »Nichts will ich hier, nur abreisen«, schreibt sie. Sie, die getaufte Jüdin, wird nicht zu Hofveranstaltungen eingeladen, sie langweilt sich, ihr fehlt der Austausch und sie klagt über die »elende, kleine, verhedderte Hofresidenz«, in der sich die Gespräche nur um »Wellen, Walfische, Sterne und Meer« drehen und von ihr erwartet wird, die »Frau Geheimlegationsräthin« darzustellen und ansonsten den Mund zu halten und auch ihren viel beschäftigten Mann nicht zu belästigen. 

In dieser Zeit wird sie Briefe schreiben, die sich um die Rolle der Frau in der Ehe drehen; z.B. an ihre Schwester: 

»Die Weiber… haben der beklatschten Regel nach gar keinen Raum für ihre eigenen Füße, müssen sie nur immer dahinsetzen, wo der Mann eben stand, und stehen will; und sehen mit ihren Augen die ganze bewegte Welt, wie etwa einer, der wie ein Baum mit Wurzeln in der Erde verzaubert wäre, jeder Versuch, jeder Wunsch, den unnatürlichen Zustand zu lösen, wird Frivolität genannt; oder noch für strafwürdiges Benehmen gehalten.»

Die Institution Ehe, in der Freiheit zu ihrer Zeit eine Illusion ist und Frauen abhängig vom Stand des Mannes, kommt ihr daher für »etwas Unnatürliches, Verkehrtes« vor und nie, so heißt es jetzt, würde sie ihrem Kind eine »Einwilligung zum Heiraten» erteilen.

Inzwischen sind in Süddeutschland Unruhen ausgebrochen, der Hep-Hep-Sturm und Pogrome, die zig Juden das Leben kosten, weil die, die wirtschaftliche Rezession trifft, einen Sündenbock gesucht und gefunden haben. Öffentlicher Widerstand dagegen regt sich kaum und Rahel, die zwar mit ihrer Herkunft nicht mehr viel zu tun haben will, leidet mit und schreibt an ihren Bruder Ludwig Robert: 

»Ich bin grenzenlos traurig; und in einer Art wie ich es noch gar nicht war. Wegen der Juden…. Die Gesinnung ists die verwerfliche gemeine, vergiftete, durch und durch faule, die mich so tief kränkt, bis zum herzerkalten Schreck. Ich kenne mein Land! Leider… Dies ist der deutsche Empörungsmut… Judensturm.»

Rahel ahnt, dass ihr Austritt aus dem Judentum vergeblich war, einmal Jude, immer Jude.

Doch dann wird der offensichtlich zu liberale Karl August Varnhagen aus Karlsruhe abberufen und 1819 kehrt das Paar nach Berlin zurück.  

Berlin ist inzwischen DIE Theater- und Musikstadt Deutschlands. Über Politik will hier niemand etwas wissen. Die Restauration hat begonnen und auch viele von Rahels früheren Freunden wie Humboldt verlieren ihre Ämter, andere sind inzwischen tot und auch mit ihren Geschwistern kommt es zu Streit. Berlin kommt Rahel fremd und abweisend vor. 

Karl, dessen Karriere als Diplomat mehr oder weniger scheitert, hat seine publizistische Tätigkeit inzwischen zum Hauptberuf gemacht. Und die Besucher, die zu ihnen in die Mauerstraße kommen, kommen nicht mehr nur zu Rahel wie früher zur Zeiten ihres ersten Salons in der Jägerstraße, sondern auch zu ihrem Mann. 

Nicht nur Rahel, sie geht auf die 60 zu, auch ihre Gäste sind älter geworden, es geht nicht mehr um Liebeleien und Abenteuer und der sog. zweite Salon, den sie nun mit ihrem Mann führt, ist wesentlich konventioneller als ihr erster. Viele der Romantiker hatten sich in ihrer Deutschtümelei und ihrem Konservatismus von Rahel abgewandt. 

Es verkehrten jetzt Hegel, Ranke, Börne und andere politisch fortschrittlich Denkende wie Bettina von Arnim bei ihnen, und einige Originale wie der Fürst und die Fürstin von Pückler. Doch der Salon bleibt nur eine Illusion der Gemeinsamkeit und der Integration. Außerhalb des Salons sind die Varnhagens isoliert und erhalten keine Einladungen zu den angestrebten Kreisen.

Die Einbahnstraße mag vielen ihrer Gäste nicht bewusst sein, die Rahel hochloben, sie ihre »Beichtmutter« nennen oder einen »Menschenmagnet«. Franz Grillparzer, der Dichter aus Wien, beschreibt in seiner Autobiographie seine erste Begegnung mit Rahel. Er war an diesem Abend müde, war nur widerwillig Karl August Varnhagen nach hause gefolgt und froh, zu hören, dass dessen Frau ausgegangen sei. 

»Als wir aber die Treppe hinuntergingen, kam uns die Frau entgegen, und ich fügte mich in mein Schicksal. Nun fing aber die alternde, vielleicht nie hübsche, von Krankheit zusammengekrümmte etwas einer Fee um nicht zu sagen einer Hexe ähnelnde Frau zu sprechen an, und ich war bezaubert. Meine Müdigkeit verflog oder machte vielmehr einer Trunkenheit Platz. Sie sprach bis gegen Mitternacht, und ich weiß nicht mehr, haben sie mich fortgetrieben oder ging ich von selbst? Ich habe nie in meinem Leben interessanter und besser reden gehört.« 

Und nach dem Abschied soll Grillparzer ausgerufen haben: »Auf der ganzen Welt hätte mich nur eine Frau glücklich machen können, und das ist Rahel.«

1821 kommt auch Harry Heine nach Berlin, er ist 23, noch unbekannt und wird sich später Heinrich nennen. Auch er besucht den Salon der Varnhagens. In Karl August Varnhagen findet er einen unermüdlichen Förderer, und in Rahel eine wahre Freundin. Als zwei Jahre später seinen ersten Berlin-Aufenthalt endet, bittet er sie, ihn so wenig zu vergessen, wie er sie vergessen werde und schreibt:

»Und wenn ich vielleicht nach einigen Jahrhunderten das Vergnügen habe Sie als die schönste und herrlichste aller Blumen, im schönsten und herrlichsten aller Himmelsthäler, wiederzusehen, so haben Sie wieder die Güte mich arme Stechpalme (oder werde ich noch was schlimmeres seyn?) mit Ihrem freundlichen Glanze und lieblichen Hauche, wie einen alten Bekannten, zu begrüßen.

Sie thuen es gewiß; haben Sie ja schon anno 1822 und 1823 Ähnliches gethan, als Sie mich kranken, bittern, mürrischen, poetischen und unausstehlichen Menschen mit einer Artigkeit und Güte behandelt, die ich gewiß in diesem Leben nicht verdient. . . Ich bin, gnädige Frau, mit Achtung und Ergebenheit H. Heine.«

Später widmet Heine Rahel den Zyklus »Die Heimkehr« im ersten Teil seiner »Reisebilder«. Die ist aber gar nicht erbaut, weil er sie vorher nicht um Erlaubnis gefragt hat und vielleicht, weil einige der Verse zu frivol, zu radikal sind, andere ihren Halbgott Goethe aufs Korn nehmen. Der spätere Briefwechsel zwischen Rahel und Heine ist größtenteils verbrannt, aber sie wird für ihn immer die »geistreichste Frau des Universums« und ihr Salon auch im Pariser Exil »das Vaterland« schlechthin bleiben – und sie: sie wird ihn immer für sich selbst überschätzend halten.

Neben Heinrich Heine kommen auch Gäste wie Eduard Gans und Ludwig Börne aus dem weltaufgeschlossenen jüdischen Bürgertum. Sie haben schon die Möglichkeit, an deutschen Universitäten zu studieren und gehören so einer neuen Generation Juden an, die auch in Rahel ein neues Solidaritätsgefühl mit ihrem ehemaligen Stamm entstehen lässt. All diese Juden bleiben, auch wenn sie sich assimiliert hatten, Außenseiter, weil sie meistens von großen Teilen des Adels und vor allem vom Bürgertum nicht anerkannt wurden. Man verweigert ihnen Posten, sie müssen sich ihre Stellung mit Untertanengeist und Heuchelei erkaufen und auch Heine, Börne und Gans geben dem Druck nach und konvertieren zum Christentum. Allerdings sind sie rebellischer als Rahel es je war und auch wenn sie mit den jungen Wilden manchen Streit hat, bleibt sie ihnen in Gedanken treu, der »alte Judenschmerz« ist in ihnen allen. 

Von Heine erwartet sie, dass er dem, worunter sie alle gelitten haben und leiden, Ausdruck gibt:

»SIE werden dies herrlich, elegisch, fantastisch, einschneidend, äußerst scherzhaft, immer gesangvoll, anreizend, oft hinreißend sagen. Aber der Text aus meinem alten beleidigten Herzen wird doch dabei der Ihrige bleiben müssen.«

1829 beginnt sich Rahels Gesundheitszustand arg zu verschlechtern… 

Rahel hatte ihr ganzes Leben lang an unterschiedlichen Krankheitssymp­tomen gelitten und die Schilderung dieser Beschwerden nimmt in ihren Briefen von Anfang an einen großen Raum ein. Die Gründe aller ihrer Leiden sucht bzw. findet sie in ihrer »infamen Geburt«, also in der jüdischen Abstammung; die sieht sie ihr Leben lang als Grundproblem ihrer Existenz, sie nennt sich in einem Brief eine »missglückte Kreatur« und in einem anderen an Alexander von der Marwitz eine »Krankheit des menschlichen Geschlechts«. Zugleich akzeptier­te sie ihre Leiden und körperliche Schmerzen als Teil ihrer Selbst; an ihren Liebhaber Friedrich von Gentz schreibt sie einmal: 

»Zu zwanzig Jahr wollte ich allen Schmerz einwilligen fühlen; und ich will es noch. Ewig will ich wissen, und immer aus mehr Gründen, bestätigter, was mir versagt war«. 

Zu dem Rheuma, das sie seit ihrer Jugend geplagt hat, kommen jedenfalls nun Gicht und Brustkrämpfe und eine Schwäche, die sie so vorher noch nicht erlebt hat. Sie empfängt zwar weiter ihre und die Gäste ihres Mannes, aber dann bricht 1831 auch noch die Cholera aus. Ähnlich wie bei Corona dürfen die Berliner nicht aus dem Haus gehen, es herrschen strenge Hygienevorschriften, die Rahel auch mit harter Hand in ihrem Haushalt durchsetzt. Ein paar Tausend Berliner werden der Cholera zum Opfer fallen, unter anderem Friedrich Hegel.

Als das Leben ällmählich wieder in normale Bahnen kommt, besucht sie, wenn die Gesundheit es erlaubt, zwar den musikalischen Salon von Fanny Hensel und ihrem Bruder Felix Mendelssohn-Bartholdy, aber ihr eigener bzw. dessen Besucher genügen ihr nicht mehr. Rahels Freundeskreis ist ausgedünnt und hat sich verändert. Ihre Freundinnen sind auch älter, weniger mutig und weniger abenteuerlustig geworden oder bereits tot. 

Sie klagt über ihre Gäste:

»Kann ich Ihnen worin helfen, Gutes erweisen, Schaden abwenden; gerne! Aber in betreff ihrer Meinungen, ihrer Urteile, ihres Lobes oder Tadels, sind sie mir eben so gleichgültig und existieren für mich schon jetzt nicht mehr als die Fliegen vom vorigen Jahr.« Interessante Menschen lerne sie seit 30 Jahren nicht mehr kennen – »reife Menschen ist das, was mir am meisten fehlt«. 

Einen Antrieb gibt ihr noch einmal die Julirevolution in Paris. In Berlin wird allerdings nur diskutiert, nicht auf Barrikaden gekämpft. Vielen, vor allem auch Juden, gelten nun die sozialutopischen Ideen eines Saint-Simon als Hoffnungsschimmer. Rahel sieht sie als eine Religion der Liebe und brüderlichen Zusammenleben der Menschen (das Proletariat und seine Lage blendet sie aus). Ihr Enthusiasmus lässt sie für eine Zeit vergessen, wie krank sie ist. 

»Ich bin die tiefste St. Simonistin, nämlich mein ganzer Glaube ist die Überzeugung des Fortschreitens… zu immer mehr Verständnis und Wohlstand im höchsten Sinne… Ich freue mich, jetzt zu leben, weil wirklich reel die Welt schreitet, weil Ideen, gute Träume ins Leben treten. Technik, Gewerbe, Erfindungen, Associacionen, sie auszuführen…«

Die Saint-Simonisten streiten um die Gleichberechtigung der Geschlechter und stellen die Ehe in Frage. Das ist nach Rahels Geschmack:

»Ist nur ein Hausstand heilig? Ist es nur Kindererziehung…? Ist intimes Zusammenleben ohne Zauber und Entzücken nicht unanständiger als Ekstase irgend einer Art? Weg mit der Mauer! Weg mit ihrem Schutt! Der Erde gleisch sei dieses Universum gemacht! Und alles wird auf ihr erblühn, was leben soll!« 

Solche Sätze stehen in ihrem Tagebuch, an die Öffentlichkeit traut sie sich damit nicht.

Und bald, immer noch 1832, kommt die nächste schwere Zeit auf sie zu: Ihr Bruder Ludwig, seine Frau, ihre Freundin Pauline Wiesel, ihr Ex-Liebhaber Gentz und der hochverehrte Goethe sterben.

Wenige Monate später beginnt auch Rahels letzte Leidenszeit. Sie kann kaum noch laufen, hat Anfälle und Krämpfe, schreibt zum zigsten mal ihr Testament zugunsten von Varnhagen um und verfasst »Letzte Worte«: 

»Wenn ich sterben muss, denke: sie hat alles gewusst; weil sie alles kannte; nie etwas war, nichts be­absichtigte, und alles durch Nachdenken siebte, und in Zu­sammenhang brachte; sie verstand Fichte; liebte Grünes, Kinder; verstand Künste; .der Menschen Behelf. Wollte Gott helfen in seinen Kreaturen. Immerdar; ununterbrochen; und dankte ihm ·für diese ihre Beschaffenheit. … das war dem alten Drachen seine Gute Seite.«

Bettina von Arnim, die treue Freundin ihrer letzten Jahre, sitzt an ihrem Bett. Und Karl August Varnhagen. Der berichtet, wie sie sich mit ihrem Judentum aussöhnt. Im Totenbett soll sie gesagt haben:

»Welche Geschichte! – Eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier und finde Hilfe, Liebe und Pflege von Euch!… Mit erhabenem Entzücken denk ich an diesen meinen Ursprung und diesen ganzen Zusammenhang des Geschickes, durch welches die ältesten Erinnerungen des Menschengeschlechts mit der neuesten Lage der Dinge, die weitesten Zeit- und Raumfernen verbunden sind. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht« ich das jetzt missen.«

Am frühen Morgen des 7. März 1833 stirbt Rahel Varnhagen mit 61 Jahren. Aus Furcht davor, scheintot begraben zu werden, verfügte sie, nach ihrem Tod für 20 Jahre in einem Doppelsarg mit Sichtfenstern oberirdisch aufgebahrt zu werden. Der Sarg steht dann sogar 34 Jahre lang in einer Halle auf dem Friedhofsquartier vor dem Halleschen Tor, bis Rahel 1867 auf Veranlassung ihrer Nichte endgültig neben ihrem neun Jahre zuvor verstorbenen Mann auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof beigesetzt wird. 

Hier ruht sie nun – Rahel Friederike Varnhagen von Ense, geb. Robert – neben so vielen ihrer Freunde: Fanny und Felix Mendelssohn, Henriette Herz, Iffland, Tieck, Schleiermacher, Chamisso. 

Auf ihrem weißen Marmorstein steht: »Gute Menschen, wenn etwas Gutes für die Menschheit geschieht, dann gedenk freundlich in eurer Freude auch meiner.«

©yupedia

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