Rolf, seine Keule und die Lumpensammlerin

In Erinnerung an die Brüder Rolf und Alfred Joseph und ihre Retterin Marie Burde


Die Josephs sind am Moritzplatz und im Wedding aufgewachsen – das hört man bis heute, wenn der 90-jährige Rolf über sich und seine „kleene Keule“, den ein Jahr jüngeren Bruder Alfred spricht. Schon ihre Eltern und ein Teil der Großeltern waren gebürtige Berliner, bewusste Staatsbürger – der Vater Weltkriegsteilnehmer – und bewusste Juden. Und waren die Eltern auch religiös? „Ja, leider“, antwortet Rolf Joseph und erzählt, dass sich Alfred bis heute mit Wehmut daran erinnert, wie der Fleischer im Haus allen Bewohnern zu Weihnachten immer ein großes Paket mit Schweinefleisch und Wurst schenkte und Mutter Joseph dieses Paket – obgleich die Familie arm war, der Vater hatte alles Geld in der Inflation verloren – dann immer sofort weiterschenkte, weil der Inhalt eben nicht koscher war.
Die Brüder waren meist zusammen – bei „Habonim“ ebenso wie bei ihrer Lieblingsbeschäftigung im Fußballverein „Hagibor“. Doch seit 1933 schwänzte Rolf oft die Schule, weil sein Lehrer von nun an in SA-Uniform zum Unterricht erschien und den Juden Joseph bei jeder Gelegenheit schlimm mit dem Rohrstock verprügelte. Seiner Mutter gelang es mit viel Betteleien ihn trotz des Ausbildungsverbots für Juden bei einem „arischen“ Tischler unterzubringen, wo er mit Ach und Krach seine Tischlerlehre machen konnte, aber nicht verraten durfte, dass er Jude ist.
Wie jeden Tag fuhr Rolf Joseph am 10. November 1938 morgens mit dem Fahrrad quer durch die Stadt vom Wedding zur Berufsschule am Ostbahnhof – diesmal vorbei an brennenden Synagogen und jüdischen Geschäften, deren Fensterscheiben beschmiert und zertrümmert worden waren. Überall plünderten die SA und das „Volk“ ungehindert diese Läden, so das große Juweliergeschäft Brandtmann – „da war uns klar, wenn das geht, dann geht alles“.
„Alfred und ich rannten weinend zu unserem Vater und flehten ihn an, mit uns wegzugehen aus Deutschland. Aber Vater war ein eingefleischter Deutscher. Er sagte: ‘Ich habe vier Jahre den Krieg mitgemacht, bin dreimal verwundet worden und hab das Eiserne Kreuz – uns tut man nichts‘. Aber das war ja nun nicht so…“.
Sie werden bald zur Zwangsarbeit verpflichtet – der Vater und Alfred im Gleisbau, Rolf bei IG Farben in Lichtenberg, zwölf Stunden am Tag. Später schuftet er zusammen mit 15 anderen jüdischen Jungs in einer Pankower Tischlerei, die Einrichtungen für die Wehrmacht herstellt. Der Meister hörte den ganzen Tag nur „Sondernachrichten” des“ Oberkommandos der Deutschen Wehrmacht”. Die Chefin des Betriebes verhindert, dass Rolf zu einem angeblichen Brückenbau nach Riga abkommandiert wird. Der betreffende Transport kam nie in Riga an, alle Verschleppten wurden erschossen.
Im Juni 1942 müssen Rolf und Alfred dann tatenlos zusehen, wie wenige Meter von ihnen entfernt ihre Eltern abgeholt werden. Sie haben sie nie wieder gesehen. Beide kamen nach Theresienstadt und starben in Auschwitz.
Für die Brüder selbst endet mit dem Abtransport der Eltern das legale Leben. Sie tauchten unter, nur mit dem, was sie am Leib hatten, ohne Geld, Lebensmittelkarten oder Kontakte. Sie schlafen in Wäldern und Bahnhofstoiletten, bis sie Marie Burde treffen, eine wunderliche Lumpensammlerin mit einem großen Herzen. „Mieze“, wie sie genannt wurde, riskiert ihr Leben und versteckt die Brüder in ihrer Kellerwohnung.
Auch wenn sie völlig isoliert leben und aus Angst keinen Kontakt zu anderen „U-Booten“ aufnehmen, wird Rolf eines Tages am Nettelbeckplatz von der Gestapo geschnappt und in die Burgstraße gebracht.
Weil er nicht verraten will, wo sein Bruder ist, wird er, nackt und gefesselt an Händen und Füßen mit einem Ochsenstriemer geschlagen, immer wieder. Er schweigt und wird schließlich in die Deportationssammelstelle in der Großen Hamburger Straße gebracht. Nach sechs Wochen der Abtransport Richtung Auschwitz. Kurz vor der polnischen Grenzen kann er mit anderen zusammen die Holzwand des Waggons aufbrechen und aus dem fahrenden Zug springen. Nach zwei Nächten wird er eingefangen und wieder zur Gestapo in die Burgstraße gebracht. Er zerkratzt sich den ganzen Körper, simuliert eine Scharlacherkrankung und wird ins Jüdische Krankenhaus gebracht. Hier springt er aus dem zweiten Stock. Rolf bricht sich die Wirbelsäule an,
schafft es aber noch zurück zu Mieze Burde in die Tegeler Straße. Dort ist noch immer sein Bruder. Mieze Burde versteckt die Jungs weiter (der lange Rolf wiegt nur noch 46 Kilo) und versorgt sie mit Essbarem, vor allem mit Kohlrüben („Nach dem Krieg habe ich nie wieder Kohlrüben gegessen, nie wieder!“).
Bruder Alfred wird bei einem „Ausflug“ kurz vor Kriegsende ebenfalls noch von der Gestapo erwischt, nach Sachsenhausen gebracht und auf den berüchtigten Todesmarsch geschickt. Wie durch ein Wunder überlebt er. Und auch Joseph wird am 20. April 1945 von sowjetischen Truppen befreit.
Die Brüder Joseph haben 60 Verwandte in der Schoa verloren – Mutter und Vater hatten je acht Geschwister. Außer einer jungen Frau, Lydia, die mit einem Cousin von ihnen verheiratet war, kam niemand von der ganzen großen Familie aus Auschwitz wieder. Rolf Joseph hat Lydia geheiratet. Sie waren 46 Jahre zusammen – bis sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.
Auch Alfred heiratete, wurde Vater einer Tochter und arbeitete bis zur Rente in der jüdischen Metzgerei. Rolf war 30 Jahre in einer Waggon- und Maschinenfabrik angestellt, wo „ich mich zum Abteilungsleiter hoch gearbeitet“ habe.
Und wie hat er seine heutige Lebensgefährtin Uschi kennen gelernt? „Ich war zu einer Bar Mizwa in der Synagoge Joachimstaler Straße eingeladen. Da war ich ja vorher noch nie, und aus Versehen hab ich mich in die Frauenabteilung gesetzt…“
Trotz aller Fürsorglichkeit in seiner Umgebung – vergessen kann Rolf seine Erlebnisse nicht. Bis heute dreht er sich auf der Straße ständig um, als würde er noch immer verfolgt werden. „Das ist wie ein Automatismus, das kann ich nicht mehr ablegen, das ist drin“. Und bis heute bekommt er epileptische Anfälle von den Schlägen auf den Kopf bei der Gestapo.
„Dass wir beide überlebt haben war keine Klugheit“, resümiert Rolf, „das war einfach nur Glück“. Die beiden Brüder haben soviel zusammen ertragen. Was hat er heute für ein Verhältnis zu seiner kleinen „Keule“? – „Alfred ist meine zweite Hälfte… Wenn ich Kopfschmerzen habe, hat er auch welche, und wenn er Gicht im Zeh bekommt, bekomme ich auch welche.“ 
„Ich bin der älteste Beter in der Pestalozzistraße“, meint Rolf. „Ich gehe jeden Freitag und jeden Schabbes hin, aus Dankbarkeit, dass ich überlebt habe.“ Rolf Joseph hat aber auch schon mal zwanzig muslimische Schülerinnen in die Synagoge mitgenommen und einiges Erstaunen damit geerntet. „Aber das macht mir nichts“, sagt er, „die Mädchen haben sich dafür interessiert“. Dafür, dass er seit zwanzig Jahren in die Berliner Schulen geht und Jugendlichen verständlich macht, was es bedeutet, verfolgt zu werden, wurde ihm 2002 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Auch Mieze hätte einen Orden verdient. „Aber leider ist sie uns weggestorben“, sagt Rolf Joseph, „heute würden nämlich wir für sie sorgen!“ Die Brüder haben das einzige getan, was sie noch tun konnten – sie haben auf der „Allee der Gerechten“ in Jad Vaschem einen Baum für ihre Retterin gepflanzt. 
(2017)

Marie Burde

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