…so scharf auf Seele


„Sie sind zwar zum Tode verurteilt, mein Kind, aber weiss Gott, Sie hätten Talent gehabt, am Leben zu bleiben“ (Lili Grün)

Elisabeth Grün, heute vor 112 Jahren, am 3. Februar 1904, in Wien als jüngstes von vier Kindern des aus dem ungarischen Élesd stammenden Schnurrbartbinden-und Haarnetz-Fabrikanten Hermann Grün und seiner Frau Regina Goldstein geboren, verlor mit elf Jahren die Mutter, mit 18 den Vater. Dieses Trauma hat sie später versucht, literarisch zu verarbeiten. Doch zunächst bekam sie einen Vormund. Der nötigte sie eine kaufmännische Lehre zu machen. Doch Lili Grün wollte Schauspielerin werden, nahm privat Unterricht und versuchte, kleine Rollen am Theater zu ergattern. 

Angezogen von der freieren Kulturmetropole und mit der Hoffnung, hier Arbeit als Schauspielerin zu finden, ging sie 1929 nach Berlin, verdingte sich als Aushilfe in einer Konditorei, besuchte abends das Romanische Café, lernte Gleichgesinnte kennen und schloss sich dem kleinen politisch-literarischen Kabarett ‚Die Brücke‘ von Julian Arendt an, das aber sehr bald wieder schließen musste. Trotzdem wurde die Berliner Presse hier erstmals auf sie aufmerksam: „Lily Grün bringt reizende freche Gedichte“ (12-Uhr-Blatt, 5.5.1931) oder „Lilly Grün – trägt Erotik, sehr persönlich und sehr belustigend“ (Film-Kurier, 5.5.1931). 

Mein kleiner Junge, kokettier nicht mit mir
Ich hab‘ andere Sorgen.
Den ganzen Tag lauf ich herum 
Um Geld für die Miete zu borgen 

— „Ich bin im Februar 1904 in Wien geboren,
Frühzeitig hab ich  Vater und Mutter verloren.
– – – Sollte es mit gelingen, die freiwerdende Stelle
bei Ihnen zu bekommen, sehr verehrter Herr Direktor,
Dann werde ich mich bemühen, meinen Pflichten
stets nachzukommen!“

Und so ist es wieder Abend geworden, halb acht.
Und der heutige Tag hat nichts gebracht,
Und nichts bliebt, als die Hoffnung auf morgen.

— Mein kleiner Junge, kokettier nicht mit mir
Ich hab‘ andere Sorgen.

Berlin war ein hartes Pflaster. Auch wenn Grüns literarische Produktion hier ihren Anfang nahm und sie ein paar Gedichte und kleine Geschichten in Zeitschriften unterbringen konnte, herrschte hier die selbe Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit wie in Wien: „Man hat sich ein schlechtes Geburtsdatum ausgesucht. Seit man lebt, sind die Zeiten gross, aber unangenehm“ (Lili Grün in ‚Herz über Bord‘). Und die junge Frau erkrankte an Tuberkulose. Schließlich blieb ihr nichts übrig, als 1931 nach Wien zurück zugehen. 

Sie veröffentlichte nun regelmäßig Gedichte und kleine Prosatexte in Zeitungen und nahm im Mai 1932 an einem Talent-Wettbewerb des „Kabaretts Simpl“ teil, wie die ‚Kleine Volkszeitung‘ berichtete: „…Lilli Grün, eine Art weiblicher Joachim Ringelnatz, bewies mit ihrem eigenartigen und interessanten Vortrag, daß die Dichterin der Kleinkunstbühne hinter ihrer männlichen Konkurrenz keineswegs zurückzustehen brauche. Die junge Dame wurde von dem Richterkollegium als Zweitbeste qualifiziert…“ 

‚Einzelhaftpsychose‘ (auf dem Foto die Schauspielerin Alexa von Porembsky), in: Das Leben, 1930

Ein Fräulein erwacht in einer fremden Wohnung:

Sie schmeckt mir nicht, die so geliebte Morgenzigarette – 
Ach, wenn ich bloß ne andre Sorte bitte;
Natürlich, ausgerechnet so eln starkes Kraut.
Und überhaupt – Ich will nach Haus
In mein Bett 
Und mich ausstrecken
Unter gewohnten, geliebten, vertrauen Decken 
Und ich will meine Zahnbürste 
Und meine Badewanne 
Und meine eigene praktische Kaffeekanne,
 
Nicht dieses fremde, scheussliche Ding 
Mit diesem ausgefallenen Muster.
Angerechnet ’ne Blume und ein Schmetterling.
Einfach verrückt!

Was hat denn der Junge da nur für Manieren?
Du lieber Himmel, so kann man sich irren?
Gestern abend war er doch wirklich scharmant, 
Und heut ist er öd, scheusslich und unbekannt.
Ob denn das wirklich alles nötig ist – ?!

Ach, das kommt nur daher, 
Dass man immer wieder In Romanen liest,
Dass es sowas wie Abenteuer gibt.
Und jetzt in die Lackschuh hinein.
Die tun doch weh, sind eng und brennen 
Und überhaupt – ich mag nach Haus 
In mein Belt und flennen!
Ich bin so verknautscht.
Ach ja. mein Liebling.
Am besten ist’s, du rufst mal an
Und kommst dann auf ganz gemütlich zu mir
Oliva 3304

Wo hab ich denn bloß die Telefonnummer her?
Ist das nicht die von Hedi Stahr?
Ach was, der Junge macht sowieso keinen Gebrauch davon,
Wenn der anruft, lass ich mich hängen
Und überhaupt – wir wollen diese Nacht lieber verdrängen!

Der auf Grün aufmerksam gewordene Schriftsteller Robert Neumann vermittelte sie an den Paul Zsolnay Verlag. Hier erschien im März 1933 ihr erster Roman ‚Herz über Bord‘. In dem hatte sie ihre Berliner Erlebnisse rund um ‚Die Brücke‘ verarbeitet und die Kritiker waren begeistert: 
„Hier schreibt ein junger Mensch von Liebe und Ehrgeiz und Lebenshunger und Sehnsucht, schüttet sein Herz aus, seine Not, seine Angst vor der Unerfüllbarkeit, aber dieser junge Mensch überschreitet nirgends die Grenze zwischen Gefühl und Sentimentalität, zwischen echtem Erlebnis und Kitsch. Dieser Roman ist prachtvoll, gerade weil er jede Überschwänglichkeit vermeidet, weil er nichts vortäuschen will, weil er rein und wahr ist. … Lili Grüns erster Roman gehört zu den wirklich liebenswerten und lesenswerten Büchern unserer Zeit.“ (Hanns Margulies, Wiener Tag, 27. März 1933).

… ohne Zweifel ein sehr beachtenswerter Beitrag zur Zeitgeschichte der jungen Generation, von einer Mitkämpferin im großen Heer der Hoffenden und Namenlosen geschrieben, die das Fegefeuer des Anfangs gründlich durchkosten mußte. Die Palette der jungen Schriftstellerin hat ungewöhnlich zärtliche und subtile Farben, die Autorin versteht, zu erleben, aber auch zu beobachten und zu analysieren. Diese kleine Elli, die wie ein windgewehtes Blatt durch die Freuden, Enttäuschungen, bitterbösen Traurigkeiten und himmelstürmenden Hoffnungsträume des Buches flattert, ist ihr Spiegelbild.“ (Emanuel Häußler, 26. April 1933 ‚Neues Wiener Tagblatt‘)

Die „dokumentarische, literarische Qualität dieses Erstlingsbuches eines vom Leben verprügelten kleinen Mädels ist über jeden Zweifel erhaben. … Und ich stehe, da es sich nun einmal um ‚Dokumentenliteratur‘ handelt, nicht an, zu verraten, d das Schicksal der Heldin da durchaus dem der Autorin nachgebildet ist. … Um diese Lili Grün ist mir nicht bange. Sie wird ihren Weg machen.“ (Robert Neumann, 7. Juli 1933, Neue Freie Presse) 

Tatsächlich haben beinahe alle Texte Lili Grüns, ob Roman, Gedicht oder Kurzgeschichte autobiografische Züge. Es geht um früh verstorbene Eltern, den täglichen Überlebenskampf junger Frauen, die sich beruflich, gesellschaftlich wie sexuell zu emanzipieren versuchen und oft scheitern, um Einsamkeit, Liebe, Enttäuschung und Sehnsüchte. 

Ihr Stil ist lakonisch, unprätentiös, frech wie der von Kurt Tucholsky und charmant-selbstironisch wie der Mascha Kalékos.  „…Denn bis zum Tode bin ich dein, / Und noch im Grabe lieb’ ich dich, / Doch wenn schon einmal Schluß muß sein: / Den, Liebling, mache ich!“
oder in ‚Abschied von der letzten Saison‘: … Ach, wie die Zeit vergeht. / Jetzt haben wir September. / Im Juni, nicht wahr, war es aus? / Ich kränk mich höchstens noch durch den Oktober / Anfang November mach ich mir nichts mehr daraus. / Der große Schmerz hat bereits nachgelassen / Ich fühl mich auch nicht mehr verpflichtet, dich zu hassen. / Ich denk schon hie und da an einen andern Mann… /…Und das ist das, was ich dir nicht verzeihen kann!!!
oder ‚Elegie bei einer Tasse Mocca‘::

in: Jugend, 1930

Das erfahrene Mädchen:
Ich bin jetzt fünfundzwanzig Jahre alt
Und habe schrecklich viel erfahren, 
Ich weiß, daß früher alles besser war, 
So in den guten Achtzgerjahren. 
Ich weiß, daß alle Menschen Brüder sind
Und dass daß wir alle gleich sind vor Gesetz und Recht,

Ein großer Maler war Herr Moritz Schwind 
Und die Dreigroschenoper schrieb Bert Brecht. 
Ich weiß, daß Gottes Mühlen langsam,

aber sicher mahlen,
Ich weiß, daß heutzutag ganz andere Leut,

auch keine Schulden zahlen…
Ich weiß, daß arme Mädchen sitzen blieben
Und nur die Reichen kriegen einen Mann,
Ich weiß, daß wir jetzt das Jahr 34 schreiben 
Und daß man gegen das Kinderkriegen 
was unternehmen kann.
Ich bin jetzt fünfundzwanzig Jahre alt,
Doch wenn du’s niemand weitersagst: 
Ich bin noch schrecklich klein.
Ich glaub an Gott und an die große Leidenschaft
Und daß der Himmel alles böse straft, 
Daß endlich wieder Frühling ist.
Daß du ein Mann mit starken Armen bist, 
Daß unsere Liebe dauern wird für Zeit und
Ewigkeit
In Gottes Namen
Amen.

Robert Neumann, der sich – siehe oben – sicher war, dass Lili Grün ihren Weg machen würde, schlug ihr vor, sich nach dem erfolgreichen Berlin-Roman nun an einem Roman über das Leben an einem Provinztheater zu versuchen. Der Zsolnay Verlag zahlte auch einen Vorschuss, der ihr ermöglichte, mit ihrem Lebensgefährten Ernst Spitz über Prag, wo sie etliche Gedichte veröffentlichen konnte, nach Paris zu gehen. Doch das Geld war bald aufgebraucht und ihre Lungenkrankheit brach wieder aus. 

Anfang 1935 kehrten Lili Grün und Ernst Spitzer zurück nach Wien. Doch auch hier bestand  ihre einzige Einnahmequelle aus den Tantiemen des Romans und kleinen Honoraren für Gedichte und Kurztexte. Dank einer Spenden-Aktion des Verlags konnte sie zur Kur in ein Lungensanatorium („Es gibt Augenblicke, in denen ich wirklich glücklich bin, wirklich glücklich. … Ich kann mir selbst zusehen wie ich gesünder und ‚normaler‘ werde“), hatte dann aber kaum noch die Mittel für die Heimreise.
Ihr zweiter Roman – ‚Loni in der Kleinstadt‘ – um die Theater- und Liebeserlebnisse einer jungen Schauspielerin an einer Provinz-Bühne erschien schließlich ab August 1935 zunächst als Fortsetzungsroman in einer Zeitung: „Ich habe keine Eltern, ich habe einen Vormund und der besteht darauf, daß ich tagsüber bei einer Modistin bin … Handwerk hat einen goldenen Boden! … abends statiere ich im Theater – so den zweiten Baum von links… – Großartig … und wann lernen Sie Ihre Rollen für den Wald – und wann haben Sie Unterricht?‘ Mittagspause – nachts – der Tag hat vierundzwanzig Stunden.“ Auch dieser Roman wurde als humorvolle, unkitschige Wirklichkeitsbeobachtung gelobt. 

Trotz der Krankheit schrieb Lili Grün weiter. Ihr dritter Roman ‚Junge Bürokraft übernimmt auch andere Arbeit‘ wurde im Dezember 1936 im ‚Wiener Tag‘ angekündigt, erschien dort 1937 auch in Forsetzungen, jedoch nicht mehr als Buch: „Es ist ein Wiener Roman und ein kleines Mädchen, das tapfer mit dem Leben herumrauft, seine Heldin. … Ein ganzer Stadtteil steht in echter Wiener Luft vor dem Leser da, und aus hundert kleinen Beobachtungen setzt sich ein liebevolles Lebensbild von heute zusammen.“

So hätte es weiter gehen können. Doch 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland, hatte die jungen Autorin als Jüdin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. So mittellos und krank, wie sie war, konnte sie auch nicht emigrieren. Ihr Freund Ernst Spitzer, wie sie in Wien als Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, Kommunist und u.a. Redakteur der ‚Roten Fahne‘ und Kabarett-Autor, wurde im Mai 1938 von der Gestapo festgenommen, nach Dachau deportiert und 1940 in Buchenwald „auf der Flucht“ erschossen.

Elisabeth „Sarah“ Grün wurde ebenfalls noch 1938 als „Nichtarierin” aus ihrer Wohnung geworfen, danach mehrfach zwangsdelogiert, am 27. Mai 1942 aus einer Massenunterkunft für Juden in der Neutorgasse im 1. Wiener Bezirk deportiert, unmittelbar nach der Ankunft im weißrussischen Maly Trostinec am 1. Juni 1942 vermutlich wie die meisten anderen von der Waffen-SS im Wald erschossen und in einem Massengrab verscharrt.

Dank der Herausgeberin Anke Heimberg, die der fast komplett vergessenen Wienerin intensiv nachgespürt hat und dem AvivA Verlag Berlin kann man heute wieder Bücher von Lili Grün lesen, so ‚Alles ist Jazz‘ (= ‚Herz über Bord‘, 1933/2009), Zum Theater! (= ‚Loni in der Kleinstadt‘, 1935/2011), die Prosa- und Gedichtsammlung ‚Mädchenhimmel!‘ (2014) und ‚Junge Bürokraft übernimmt auch andere Arbeit‘ (1936-37/2016).

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