
Hedwig Klein, heute vor 113 Jahren in Antwerpen geboren, kommt als Dreijährige mit ihrer Familie nach Hamburg, wo ihre Mutter Recha geboren wurde und ihre Oma Gretchen lebt. Zwei Jahre später wird ihr Vater Abraham, ein ungarischer Kaufmann, zum Wehrdienst eingezogen und stirbt 1916 an der sog. Ostfront. Hedwig, nun Halbwaise, macht 1931 Abitur und schreibt sich an der Uni in den Fächern Islamwissenschaft, Semitistik und englische Philologie ein – vielleicht auch, weil sie wie andere jüdische Intellektuelle dieser Zeit glaubt, zwischen Judentum und Islam bestehe eine natürliche Affinität und in der Hoffnung nach Osten schaut, dort Erlösung vom Antisemitismus zu finden.
Im Studium bringt ihr kritischer Verstand und ihre Skepsis gegenüber jedweder dogmatischen Aussage Hedwig den Spitznamen Šakkāka ein: die gewohnheitsmäßige Zweiflerin oder Skeptikerin. Die brillante Studentin, die als klein, zierlich, stark kurzsichtig, zurückhaltend und als unendlich bescheiden beschrieben wird, ist im Frühjahr 1937 mit ihrer Doktorarbeit über die historische Rezeption des Islam im Oman fertig und beantragt die Zulassung zur Promotion. Mündlich wird ihr mitgeteilt, dass sie aufgrund eines neuen Erlasses als Jüdin nicht mehr zugelassen werde. Hedwig Klein gibt nicht klein bei und beantragt eine Ausnahmegenehmigung bei Fritz Jäger, dem Dekan der Philosophischen Fakultät. In ihrem Schreiben verweist sie unter anderem auf die viele Arbeit, die in ihrer Dissertation stecke und darauf, dass ihr Vater schließlich für das Deutsche Reich gefallen sei. Tatsächlich lässt sich die Universitätsleitung erweichen und entscheidet: „Jüdin, ausnahmsweise zugelassen.“ Ihre Arbeit erhält das Prädikat summa cum laude, und einer der Gutachter merkt an, Klein wäre so brillant, „dass man sich wünschte, einige ältere Arabisten könnten ihr gerecht werden.“
Doch dann, als die Dissertation kurz nach den Novemberpogromen 1938 gedruckt werden soll, sieht der Dekan „das Judenproblem in Deutschland in ein neues Stadium getreten“, verweigert das notwendige Imprimatur und notiert in ihrer Akte: „Doktorbrief nicht erteilt, da Jüdin“. Kleins Semitistik-Professor Arthur Schaade hatte ihr zuvor schon oft geraten, Deutschland zu verlassen, doch die junge Islamwissenschaftlerin konnte sich eine Auswanderung nur vorstellen, wenn sie dann auch Arbeit in ihrem geliebten Fachbereich bekommen hätte, und sie hat ihre dramatische Lage wohl auch lange nicht erkannt. Doch jetzt denkt Hedwig, nun mit dem Zusatznamen „Sara“ für jedermann als Jüdin gekennzeichnet, nur noch an Flucht und fragt verzweifelt Universitäten im Ausland an.
Ein Hamburger Bekannter, der Geograf Carl August Rathjens – dessen Arbeit über das jemenitische Judentum bis heute als wegweisend gilt und der später selbst wie ein Staatsfeind behandelt werden wird – versucht ihr zu helfen. Über einen englischen Arabistik-Professor in Bombay gelingt es ihm, Hedwig Klein ein Visum für das britisch besetzte Indien zu beschaffen. Am 19. August 1939 besteigt die 27-Jährige voll neuer Hoffnung das Dampfschiff „Rauenfels“. Zwei Tage später schreibt sie ihrem Fluchthelfer Rathjen: „Ich … mache mir im Augenblick keine Sorgen um die Zukunft. Allah wird schon helfen …“ Doch Allah hilft nicht. Nach einem Zwischenstopp in Antwerpen wird das Schiff nach Hamburg zurückbeordert. Der deutsche Überfall auf Polen steht kurz bevor. Hedwig Klein sitzt in der Falle…
Einen Schritt zurück. 1934 berichtet Fritz Grobba, der deutsche Gesandte in Bagdad nach Berlin, eine irakische Zeitung habe begonnen, Auszüge aus Hitlers „Mein Kampf“ auf Arabisch abzudrucken, die „mit allergrößtem Interesse, zum Teil geradezu mit Begeisterung gelesen worden“ seien. Hitler gilt den Arabern als starker Mann, der die verhassten Kolonialherrn in die Schranken weisen kann und Judenhass ist in der Region ebenfalls verbreitet, und so schlägt Grobba vor, aus den übersetzten Auszügen ein Buch zu machen, einige Stellen „der Mentalität und dem Feingefühl der rassebewussten Araber“ anzupassen (etwa Worte wie „Antisemitismus“ durch „Antijudaismus“ zu übersetzen) und andere wegzulassen, die von Arabern als beleidigend empfunden werden könnten.
Das Auswärtige Amt ist angetan von der Idee und Ende 1936 kommt das „Go“ vom Propagandaministerium; Hitler ist einverstanden mit einer arabischen Version seines Buches und man wünscht sich eine Übersetzung, die „etwas vom Tone des Buches“ hat, das „jeder ‚Mohammed‘ versteht: des Korans“. Doch schon bald stellt sich heraus, dass die vorhandenen Übersetzungen, die wiederum auf französischen und englischen Übersetzungen basieren, miserabel sind (abgesehen von dem ohnehin miserablen Original, das sogar Adolfs Busenfreund Benito Mussolini dazu veranlasst haben soll, „Mein Kampf“ als unlesbar „langweiligen Wälzer voller alltäglicher Klischees“ zu verspotten) und dass es kein adäquates deutsch-arabisches Wörterbuch gibt.
Die Orientexperten des Auswärtigen Amtes sehen sich also in Deutschland nach Arabisten um und stoßen auf den Hallenser Hans Wehr, der inzwischen in Greifswald lehrt und Material für ein Wörterbuch des zeitgenössischen Arabisch zusammenträgt. Wehr passt, er ist gerade in die NSDAP eingetreten und hat der Reichsregierung in einem Aufsatz empfohlen, sich „die Araber“ zu Verbündeten gegen England und Frankreich und gegen die Zionisten in Palästina zu machen. Hans Wehr wird beauftragt, ein nun von der Reichsregierung finanziertes Arabisch-Wörterbuch als Arbeitsmittel zu erstellen, um die potenziellen Verbündeten mit dem „Kampf“ des Führers in ihrer Muttersprache zu erreichen.
Hier kommt Hedwig Klein ins Spiel. Der immer um sie besorgte Professor Schaade empfiehlt Wehr seine Ex-Doktorandin als Mitarbeiterin. Auch wenn Hedwig wie alle Juden inzwischen gezwungen worden war, in ein „Judenhaus“ umzuziehen, ist sie doch so außerordentlich begabt und sachkundig, dass die Personalie Hedwig Klein von den zuständigen Stellen als „kriegswichtig“ akzeptiert wird. Wirklich vorstellen kann sich niemand, was in Hedwig vorgegangen sein muss, nur noch eine Existenzberechtigung zu haben, um ein Instrument zu erstellen, das dazu dienen würde, Hitler samt seiner arischen Volksgenossen zu preisen und den Hass und Vernichtungswillen gegen ihresgleichen korrekt formuliert in einer weiteren Sprache zu verbreiten. Doch Hedwig Klein hat keine andere Wahl, das Propagandaprojekt ist ihr einziger Rettungsanker. Da es darum geht, nicht die klassischen Quellen, sondern das tatsächliche zeitgenössische Vokabular zu erfassen, liest sie für Wehr moderne arabische Literatur. Sie legt akribisch Karteikarten mit den dort verwendeten Wörtern, Wortwurzeln und ihren Bedeutungen an und schickt sie per Post an die Redaktion. Wehrs Mitarbeiter loben die „ausgezeichnete Qualität“ ihrer Beiträge, weisen aber auch gleich darauf hin, dass es „völlig unmöglich“ sei, sie später als Mitwirkende zu nennen.
Im Herbst 1941 beginnt Hitlers „Endlösung“ konkrete Form anzunehmen. Seit 1. September müssen alle Juden den „Judenstern“ tragen, am 25. Oktober beginnen die Deportationen aus Hamburg und am 6. Dezember erhält Therese, Hedwigs einzige Schwester, als erste in der Familie einen Deportationsbefehl nach Riga und stirbt dort. Wieder ist es Arthur Schaade, der für Hedwig das Schlimmster verhindern kann. Kurz zuvor hatte er die maßgeblichen Stellen darauf hingewiesen, dass die „Wehrmacht und Kriegspropaganda in hohem Maße an der Fertigstellung des Werkes interessiert sind“, aber „die Zahl der arischen Mitarbeiter“ leider nicht ausreiche, wohingegen der „hervorragend qualifizierten“ Hedwig Klein nun aber die „Verschickung nach dem Osten“ drohe. Hedwig wird zurückgestellt und arbeitet weiter an Wehrs Wörterbuchs.
Doch nach der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 darf auch eine außergewöhnliche Jüdin keine Ausnahme mehr sein – den Vernichtungswahn der Herrenmenschen kann nichts mehr aufhalten, nicht ihr Talent, nicht die tapferen Versuche ihrer Kollegen, sie zu schützen. Am 10. Juli 1942 muss Hedwig Klein sich von ihrer Mutter und ihrer 92-jährigen Großmutter (die beide nach ihr deportiert werden) verabschieden und am nächsten Tag in den Transport nach Auschwitz steigen. Hier verliert sich ihre Spur.

Arthur Schaade, der danach erfolglos versucht, herauszubekommen, wo Hedwig Klein sich befindet und wie man ihr helfen könnte, schreibt Ende 1945 an einen Kollegen, dass „wohl mit 100%iger Sicherheit anzunehmen“ sei, dass Hedwig „direkt in den Gasofen gewandert“ ist: „Ich könnte heulen, wenn ich nur daran denke und bekomme immer wieder Hassanfälle gegen die Nazis.“
Carl Rathjen, Hedwigs zweiter guter Geist, lässt sich 1947 vom Gericht als ihr „Abwesenheitspfleger“ einsetzen und ihre Doktorarbeit drucken und er sorgt dafür, dass Hedwig Klein posthum zum „Doktor der Philosophie“ erklärt wird.
Hans Wehr hat die Chuzpe, sich 1947 vor der Entnazifizierungskommission damit zu entlasten, dass er Hedwig Klein 1941 bei der Gestapo für die Arbeit an dem Wörterbuch angefordert und so vor dem Abtransport nach Theresienstadt gerettet habe. Wehr kommt als „Mitläufer“ weg. Sein nach Kriegsende fertiggestelltes, über 1000 Seiten dickes Wörterbuch erscheint 1952. Im Vorwort dankt er inmitten vielen anderen Mitwirkenden auch einem „Fräulein Dr. H. Klein“. Das war‘s.

Das Buch, von seinen Benutzern meist nur „Der Wehr“ und in seiner ins Englische übersetzten Version „The Wehr“ genannt, ist bis heute das bekannteste und meistbenutzte Arabisch-Wörterbuch der Welt. Nur die wenigsten von ihnen dürften wissen, dass es das Resultat eines Nazi-Projekts war und der Grund für den Hinrichtungsaufschub einer jungen jüdischen Gelehrten. Ein Hinweis auf Hedwig Kleins Schicksal findet sich in de Buch erstmals 78 Jahre nach ihrer Ermordung – in der 6. Auflage von 2020. Eigentlich sollte man es in „Klein-Wehr“ nennen.


sprachlos!
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was für eine irre (traurige) und interessante Geschichte, Danke!
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Ganz traurige Geschichte, danke für das Erinnern!
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Für solch eine Menschenverachtung kann man kaum die richtigen Worte finden. Schrecklich ist, dass dieser Geist immer noch auf der Welt existiert. Die Erinnerung an die wertvollen Menschen Deiner Berichte kann nicht hoch genug gehalten werden. Wegen einer Religion verfolgt und ermordet zu werden, die noch dazu Grundlage für das Christentum und den Islam ist, ist der Wahn kleingeistiger Menschen. Danke für Deine Beiträge und herzliche Grüße, Gisela
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