1848, Berlin, jüdisch

Bei den Berliner Revolten am 18./19. März 1848 sollen drei bis vier tausend zivile Barrikadenkämpfer 20000 Mann Militär gegenüber gestanden haben. Namentlich erfasst wurden u.a. 87 Arbeiter und drei Arbeiterinnen, 60 Gesellen, 50 Handwerksmeister, neun Lehrlinge und zwei Dienstmädchen. Schon damals schwankten die Angaben über die umgekommenen jüdischen Beteiligten, da in den Listen mit den insgesamt 274 Getöteten deren Konfession nicht erfasst wurde – symbolisch für die Aufhebung religiöser und gesellschaftlicher Schranken. Leopold Zunz (der Begründer der »Wissenschaft des Judentums«) sprach von »etwa acht«, andere von bis zu 21 Gefallenen. Jüdische klingende Namen gab es etliche, sechs der Toten wurden bisher zweifelsfrei als Juden identifiziert: Der 18-jährige Alexander Goldmann und der 21-jährige Simon Barthold (für die eine eigene Stele auf dem Friedhof Schönhauser Allee errichtet wurde), der Buchdrucker Magnus Bernstein, die Handlungsdiener Moritz Goldmann und Moritz Cohn sowie der Student Levin Weiss. (Als erster hat übrigens noch Jürgen Kuczynski die Sozialstruktur der Märzgefallenen untersucht.)

Wie auch in Bayern, wo es eine starke jüdische Beteiligung und zugleich pogromartige Überfällen auf Juden gab, denen die sog. Hep-Hep-Unruhen des Vormärz vorausgegangen waren, war zwar die Mehrheit der Berliner Juden monarchietreu oder lehnte Gewalt ab. Dennoch hatten sie sich in überdurchschnittlicher Zahl an den Kämpfen beteiligt, getrieben von der Hoffnung auf eine gleichberechtigte Stellung und eine neue liberale Gesellschaft. 
Am 22. März schrieb der Berliner Joseph Franklinsky einen euphorischen Leserbrief an die Vossische Zeitung, in dem er den 18. März einen »Freudentag für die Israeliten« und »Tag von Befreiung der Unterdrückten« nennt. Selbst Rabbiner Michael Sachs spricht bei der Beisetzung der Toten auf dem jüdischen Friedhof Schönhauser Allee von »unseren gefallenen Freiheitskämpfern«. Bereits zuvor, bei der offiziellen Trauerfeier für alle Toten (Adolph Menzel hat sie gezeichnet, aber das Bild nicht vollendet), bei der Sachs neben dem evangelischen und katholischen Geistlichen sprechen durfte (auch das ein Novum), hatte er gesagt, die Berliner Juden müssten nun »deutsch« denken und fühlen und seien einem allen gemeinsamen, deutschen Vaterland verpflichtet. »Es war nicht der Tod, der sie alle gleichgemacht, sondern die Kraft des Lebens, die Macht einer Idee, die Gluth der Begeisterung, die alle Dämme und Scheidewände niederriß, welche sonst den Menschen von sich selbst und den Menschen vom Menschen scheiden…«
1848 lebten etwa 9000 Juden in Berlin (2,2 % der Bevölkerung), die Getauften nicht gerechnet (in den 50 Jahren davor waren etwa 1200 zum Christentum übergetreten). Namentlich in den demokratischen Vereinen Berlins spielten Juden eine entscheidende Rolle – u.a. die Brüder Agathon, Ferdinand und Heinrich Benar im »Volksverein«, Heinrich Bernhard Oppenheim im linken »Republikanischen Klub«, Leopold Zunz in der »Volkspartei«. In der Berliner Arbeiterbewegung war es Stefan Born, bei den Satirikern der Kladeradatsch-Gründer David Kalisch (der im Nachgang des 18. März die Posse »Einmalhundertausend Taler« schrieb), und der bis dato einzige Arbeiter in der Preußischen Nationalversammlung war der Jude Julius Brill. Auch in den Organisationen der Sozialreform und in den überparteilichen »Bezirks-Vereinen«, der größten Berliner Massenorganisation, die Bürger politisch bilden und die Arbeit der Nationalversammlung kontrollieren sollte, gab es überdurchschnittlich viele Juden. 
Die Nationalversammlung wählte im August 48 einen Juden, Gabriel Riesser, zum Vizepräsidenten, und in den vom Parlament beschlossenen neuen »Grundrechten des Deutschen Volkes« hieß es, die »bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte« der Bürger dürften durch ihr religiöses Bekenntnis weder »bedingt noch beschränkt« werden! Es schien, als sei in diesen Tagen die Emanzipation in Preußen mit einem Schlag, quasi automatisch und endgültig vollzogen.
März 1848, Zeitschrift »Orient«: »Israel sei tätig! Schlafe und schlummere nicht! Indem Du für die freieren Institutionen Germaniens heiß mitringst und mitkämpfst, indem Du mit Deinem Herzblut in hinreißender Begeisterung für die freie Gestaltung Deutschlands tätig bist…«
Doch wie bekannt, scheiterte die Revolution. In Berlin kam es in Folge zwar nicht zu Pogromen wie in Süddeutschland (dort ausgelöst durch Missernten), doch die 1848 in 20 deutschen Ländern eingeführten Gleichstellungsgesetze wurden genauso schnell zurückgenommen, wie sie erlassen worden waren: Die Verfassungsrevision von 1850 betonte dann Preußen als »christlichen Staat«. Damit waren auch Juden und Muslime (da sie den vorgeschriebenen Eid nicht leisten konnten) erneut unter anderem aus dem Verwaltungs-, Erziehungs- und Rechtswesen ausgeschlossen….

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