Die falsche Gräfin

Im Frühjahr 1943 betritt Gräfin Janina Suchodolska das deutsche Hauptquartier in Lublin und fragt an, ob sie ihre im nahegelegenen Lager Majdanek inhaftierten Landsleute mit Essen versorgen dürfe. Obwohl die Bitte eine Unverschämtheit ist und der Lagerkommandant sie später anblafft: „Wissen Sie nicht, dass das ein Konzentrationslager ist?“, bekommt die adlige Dame die Erlaubnis und bringt fortan mehrmals in der Woche 2000 kg Brot, 7000 Brötchen und 5000 Liter Suppe nach Majdanek …

Doch die Gräfin war weder Gräfin, noch war sie katholisch, noch war ihr Name Janina Suchodolska. Die Frau, die seit ihrer Heirat Jozefa Mehlbergowa hieß, war Jüdin. Ihre Geschichte ist so unbekannt wie einzigartig. Wir kennen nichtjüdische Deutsche wie Oskar Schindler oder die Polin Irena Sendler, die im besetzten Polen verfolgte Juden retteten; hier rettete eine polnische Jüdin polnische Nichtjuden. Gedankt hat man es ihr nie.

„Janina Suchodolska“, die jüdische Frau „Schindler“, wurde am 1. Mai 1905 in der polnischen, heute ukrainischen Kleinstadt Żurawno in der Nähe von Lwów (Lemberg) als Pepi Spinner geboren. Ihre Eltern, Pinchas und Antonina Spinner, waren wohlhabende Gutsbesitzer, die mit polnischen Adligen verkehrten, was auch ihrer Tochter Pepi später ihre stilsicheren Auftritte als „Gräfin“ erleichtert haben dürfte. Sie sprach wie ihre älteren Schwestern Chaja und Bluma außer Polnisch auch Französisch, Deutsch, Englisch und Russisch. Die Familie bekam kaum offenen Antisemitismus zu spüren, und Janina (bleiben wir der Einfachheit halber bei diesem Namen) übernahm den polnischen Patriotismus ihrer Klassenkameraden.

Ihre Kindheit wurde durch den Ersten Weltkrieg jäh zerstört. Pinchas Spinner wurde wie andere jüdische Landbesitzer von russischen Truppen verschleppt und starb 1918. Nach dem Krieg kamen in Ostgalizien bei einer Welle von Pogromen über 200000 Juden ums Leben, und obwohl sowohl Frauen als auch Juden der Zugang zur Universität massiv erschwert wurde, schaffte die „Überfliegerin“ Janina es, sich an der Jan-Kazimierz-Universität in Lwów in Mathematik einzuschreiben, bei dem führenden Philosophen Kazimierz Twardowski, dem Begründer der Lemberg-Warschau-Schule, zu studieren und mit 22 Jahren in Philosophie über „Mathematische Argumentation und traditionelle Logik“ zu promovieren.

Janina (untere Reihe ganz rechts) und Henryk Mehlberg (obere Reihe ganz links) als Studenten

1933 heiratete sie einen anderen ehrgeizigen jüdischen Schüler Twardowskis, Henryk Mehlberg. Henryk unterrichtete dann Philosophie und sie Mathematik an einem Mädchengymnasium. Beide publizierten u.a. in einer von der polnischen philosophischen Gesellschaft herausgegebenen Quartalsschrift und waren ein Teil der intellektuellen Szene Lwóws.

1939 kam die Stadt durch den Hitler-Stalin-Pakt unter sowjetische Herrschaft und nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 unter deutsche. Die Deutschen begannen mit Hilfe ukrainischer Nationalisten sofort Juden und prominente polnische Intellektuelle ermorden zu lassen. Täglich wurden Lastwagen voller Menschen auf einen Hügel oberhalb der Stadt gefahren, erschossen und in Massengräbern verscharrt. Als auch Henryk festgenommen werden sollte, weigerte Janina sich, von seiner Seite zu weichen, selbst als ein Milizionär ihr mit dem Gewehrkolben ins Gesicht schlug. Ihr hartnäckiger Widerstand beeindruckte einen deutschen Wehrmachtsoffizier so sehr, dass er Henryk aus der Gruppe winkte und gehen ließ.

Doch im Dezember 1941 mussten alle Lemberger Juden in ein Ghetto umziehen. Statt dem Befehl Folge zu leisten und obwohl Juden nicht mehr reisen durften, flohen die Mehlbergs mit Hilfe von Graf Andrzej Skrzyński, einem Freund von Janinas Vater, mit dem Zug nach Lublin, wo Skrzyński ihnen falsche Ausweispapiere und Arbeit besorgen wollte. Am dortigen Bahnhof angekommen, wurde Henryk von einem deutschen Polizisten festgehalten, der ihn beschuldigte, Schmuggelware zu transportieren. Janina reagierte blitzschnell und begann sich in einem hochmütigen Tonfall und perfektem Deutsch so heftig vor dem Beamten zu empören, dass der, eingeschüchtert von ihrem herrischen Auftreten, von Henryk abließ. Jahrzehnte später schrieb Janina über die Lektion, die sie in Lwów und Lublin bei ihren Begegnungen mit den Deutschen gelernt hatte: „Was macht man mit seiner Angst und seinem Zittern (…)? Man sperrt sie in das kleine Gefängnis des Herzens ein und lässt nichts davon in die Muskeln der Augen, Hände oder Beine dringen (…) Du darfst sie kein Blut riechen lassen!“

Auch Graf Skrzyński hatte gehalten, was er versprochen hatte und mehr als das. Er verschaffte den Mehlbergs neue Identitäten als polnische Adelige. Henryk verwandelte sich in Graf Piotr Suchodolski und bekam einen Job in der Landwirtschaft, mit dem er unauffällig bleiben konnte. Seine Frau wurde zur Gräfin Janina Suchodolska – und die gab sich nicht damit zufrieden, dem Tod knapp entronnen zu sein. Sie wollte, so ihr Mann später: „weder nutzlos leben, noch sinnlos sterben“.

Janina ließ sich beim Hauptwohlfahrtsrat (RGO) anstellen, der einzigen polnischen zivilgesellschaftlichen Organisation, die unter der Nazi-Besatzung tätig sein durfte. Sie wurde Leiterin der Gefangenenhilfe und beaufsichtigte die Logistik im Lubliner Raum, der bald zum Epizentrum der deutschen Vernichtungspolitik in Polen werden sollte.

Dann nutzte Janinas mathematischer Verstand eine Wende im Krieg aus. Im Februar 1943 hatte die Sowjetarmee die Wehrmacht in Stalingrad vernichtend geschlagen, die Alliierten bombardierten bereits deutsche Städte und die Deutschen waren gezwungen, alle Männer, die sie an die Fronten schickten, durch ausländische Arbeitskräfte zu ersetzen. Heinrich Himmler wollte seine Konzentrations- und Vernichtungslager zu Zwangsarbeiterlagern ausbauen und ordnete an, ethnische Polen, die auf der Untermenschen-Skala etwas höher standen als Juden (wenngleich neben drei Millionen polnischer Juden auch fast zwei Millionen Polen ermordet wurden), als Arbeiter in diese Lager zu schicken, vor allem nach Majdanek und Auschwitz. Und wenn die gewinnbringend für das Dritte Reich arbeiten sollten, mussten sie ausreichend ernährt werden – idealerweise nicht auf Kosten der SS. Hier kam Janina ins Spiel, die diese Begehrlichkeit ausnutzte und so die Genehmigung erreichte, die polnischen Häftlinge in Majdanek im Namen der RGO mit Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten zu versorgen.

Janina war eine der ersten Augenzeugen des ganzen Schreckens von Majdanek: Sie sah Hunger, Elend, Typhus und den Rauch aus den Krematorien, in denen unter anderem nach dem Warschauer Ghettoaufstand die Überreste der letzten Warschauer Juden verbrannt wurden. Janina war eine der ersten Polinnen, die erfuhr, wie die deutsche Operation „Erntedankfest“ endete, als am 3./ 4. November 1943 allein in Majdanek 18.000 Juden erschossen wurden. Und sie erlebte die sogenannte Befriedung [pacyfikacja] – die „Säuberung“ der Gebiete von polnischen Bewohnern – aus ihrer Zeugenaussage: 

„Die Deutschen umzingelten jedes Dorf, deportierten die Bewohner und brannten die Dörfer nieder oder besiedelten sie mit Volksdeutschen aus Rumänien. Zunächst wurde die vertriebene Bevölkerung in Durchgangslager in Lublin gebracht – in Majdanek und in der Krochmalna-Straße 6 und 31 sowie in Zwierzyniec, Zamość und Budzyń. In den Lagern wurden Kinder sofort von ihren Eltern getrennt und alle von dort getrennt in andere Lager geschickt, in Świnoujście, Starogard, Hamburg, Strasshof bei Wien, Tühringen, Halle, Wrocław, den Sudeten, der Neumark, Schwerin und im Rheinland (…). Die zweite Befriedungsaktion fand 1944 statt. (…) Während mehrerer Monate wurden Polen aus Wołyń abtransportiert. Als Reaktion auf unsere Intervention erklärten die deutschen Behörden, diese Menschen würden freiwillig vor dem ukrainischen Terror fliehen. Aber als ich mit den Menschen in den Transporten sprach, erfuhr ich, dass sie dazu gezwungen worden waren. (…). Und es gelang uns, einige aus den Transporten zu befreien (…)“.

Majdanek

Niemand ahnte, dass die kleine, zierliche Frau (40 Kilo schwer, 1,55 Meter groß) Jüdin war und Teil der Untergrundbewegung der Polnischen Heimatarmee war. Ihre Chuzpe, ihr selbstbewusstes glaubwürdiges Auftreten als Aristokratin, ihre Führungsrolle im RGO und ihr perfektes Deutsch öffnete ihr alle Türen. Sie brachte nicht nur bis zu fünf Mal in der Woche Nahrungsmittel , Kleidung und Medikamente nach Majdanek (und organisierte sogar die Lieferung von Weihnachtsbäumen, Ostereiern und Hostien), sondern sie schmuggelte in den Böden der Essenskübel auch Kassiber für den polnischen Widerstand und die Heimatarmee heraus und deren Nachrichten  in das Lager hinein, und 1944 z.B. Rasierklingen und versetzten Alkohol, mit denen eine Gruppe Häftlinge, die für den Weitertransport in ein anderes Lager vorgesehen war, ihre Wachen betrunken machen und überwältigen sollten, weil polnische Partisanen den Zug unterwegs angreifen wollten, von dessen Abfahrt Janina wiederum per Funk den Widerstand informierte.

Augenzeugen berichteten, wie beherrscht „die Gräfin“ alle brenzligen Situationen bewältigte und sich buchstäblich nie aus der Fassung bringen ließ, wenn sie mit tob- und mordsüchtigen SS-Leuten konfrontiert war: Oberst Rolfing, der die „Befriedungen“ 1944 überwachte, Fritsche, der Chef der Bevölkerungs- und Wohlfahrtsabteilung im Bezirk Lublin, Ramm, der Leiter der Arbeitsämter in der Region, der Schutzhaftlagerführer Anton Thumann, der Majadanek-Lagerleiter Hermann Florstedt, sein zeitweiser Stellvertreter Rudolf Walter, oder SS-Offizier Külpe, so Janina: „der sogar auf uns schoss, als wir den Kindern Essen geben wollten, während sie vom Waschraum zurückkamen (…).“

Dem nicht genug. Janina: „Es gelang mir, von einem gewissen Türk, dem Leiter der Abteilung Bevölkerungswesen und Fürsorge des Generalgouvernements, die Erlaubnis zur Freilassung von 6000 Frauen und Kindern aus Majdanek zu erhalten. Zuvor kam jedoch ein SS-Unteroffizier aus Lodz, und erklärte, er sei gegen diese Freilassung, weil die Blutuntersuchungen ergeben hätten, dass es sich um deutsche Kinder handele. Schließlich wurden sie doch freigelassen, aber es waren nur 2167, und wir mussten 594 von ihnen sofort in ein Krankenhaus bringen, da sie Fleckfieber hatten. Die Menschen waren so verängstigt, dass keiner von ihnen sagen wollte, was mit den übrigen der 6000 geschehen war. Sie sagten nur, dass einige von ihnen nach Deutschland transportiert worden seien. Der Rest starb wahrscheinlich aufgrund der schrecklichen Bedingungen (…)“

Über dies hinaus erreichte die „Gräfin“ die Freilassung polnischer Häftlinge, die als arbeitsunfähig eingestuft wurden, in die Obhut der RGO.  Insgesamt sind bis heute 9707 Fälle dokumentiert (darunter 4431 aus Majdanek), deren Freilassung auf Janinas Verhandlungsgeschick zurückgeht. Die tatsächliche Zahl wird wohl nicht mehr feststellbar sein, genauso wie es unmöglich zu beziffern ist, wie viele weitere Menschen dank ihrer Lebensmittel und anderer Hilfs- und Widerstandsaktivitäten überlebt haben.

Als Vertreterin der RGO durfte „Janina Suchodolska“ nur Menschen helfen, die von den Deutschen als rassisch polnisch angesehen wurden – sie konnte also nie direkt etwas für ihre jüdischen Brüder und Schwestern tun. Sie wusste nur, dass Polen und Juden in beiden Lagern Majdaneks ihr Essen aus derselben Küche bekamen und hoffte, während sie versuchte, immer mehr Lebensmittel ins Lager zu bringen, dass damit auch jüdische Häftlinge vor dem Hungertod bewahrt würden.

Doch Pepi Spinner bzw. Jozefa Mehlbergowa bzw. Janina Suchodolska musste auch innerhalb der polnischen Heimatarmee ihre jüdische Herkunft geheim halten. Denn zur Untergrundbewegung gehörten nicht nur Juden freundlich gesinnte Menschen wie Graf Skrzyński, sondern auch rechtsgerichtete Nationalisten, die keine Juden in ihren Reihen haben wollten. 

Die „einsame Wölfin“ und ihr Mann Henryk überlebten den Krieg. Dass sie Jüdin war, verheimlichte Janina weiter, denn die Polen wollten einer „Gräfin“ dankbar dafür sein, was sie für sie getan hatte, nicht einer Jüdin. Viele Polen waren ihren Ressentiments gegenüber Juden auch nach der Niederlage der Deutschen treu geblieben. Die Pogrome des Mobs, u.a. in Kielce und Radom, kosteten nach Kriegsende fast 2000 Schoa-Überlebende das Leben – infolge nur allzu gern geglaubter Gerüchte, enthemmt vom Antijudaismus der katholischen Kirche und dem jahrelangen Morden der Deutschen, des Umstandes, dass die kommunistische Staatsmacht nicht einschritt, sondern die Stimmung noch anheizte und der Angst vor möglichen Rückforderungen der Zurückgekehrten. Als „Janina Suchodolska“ im Dezember 1946 vor dem Bezirksgericht Warschau als Zeugin zu den Verbrechen der Deutschen und ihrer eigenen Tätigkeit befragt wurde, gab sie ihre Religion noch immer als „römisch-katholisch“ und den Namen ihrer Eltern Pinchas und Tonja als „Wojciech und Franciszka“ an. Doch der Blutrausch von Kielce war das Ende aller Hoffnungen auf ein normales Leben in Polen gewesen. Er führte zu einem Massenexodus der übrig gebliebenen Juden und auch Janina und Henryk wanderten 1948 in die USA aus. 

USA, 1949

Janina lehrte in Amerika Mathematik am Illinois Institute of Technology und Henry (nun ohne „k“) Philosophie an der Universität von Chicago und Toronto. Das Paar bekam zwei Töchter, Bobbie und Jeri, und Pepi Spinner, verheiratete Jozefa Mehlbergowa, die falsche Gräfin Janina Suchodolska, wurde als Josephine Janina Mehlberg eine renommierte und beliebte Mathematikprofessorin.

Kurz vor ihrem Tod 1969 hatte sie noch ihre Erinnerungen aufgeschrieben, für die ihr Mann, der sie ins Englische übersetzt hat, keinen Verleger fand – weder im kommunistischen Polen, wo sie als Kollaborateurin angesehen wurde, noch im Westen, wo man entweder die jüdische Erfahrung in den Vordergrund stellte oder es schlicht für unglaubwürdig hielt, dass eine „verkleideten“ Jüdin Zugang zum Lager Majdanek bekommen und Nazi-Beamte zur Freilassung von Gefangenen überredet haben soll. Es sollten über weitere 50 Jahre vergehen, bis ein Buch über sie erschien, geschrieben von den Historikerinnen Elizabeth White und Joanna Sliwa, die Janinas Angaben anhand von Dokumenten und Augenzeugenberichten akribisch verifiziert haben („The Counterfeit Countess,” 2024).

mit Henry(k), 1950er Jahre

Pepi-Jozefa-Janina-Josephine war nie religiös gewesen. Ihre Memoiren enden jedoch mit einer Geste an ihre jüdischen als auch christlichen Identität(en): „Wer will den Überlebenstrieb beurteilen? Jetzt, Jahre später, versuche ich nicht zu urteilen, sondern einfach zu berichten, denn wir, die wir weiter Teil der Menschheit sind, sind verpflichtet, ihre Fähigkeiten zu kennen, wie grausam und unerträglich dieses Wissen auch sein mag“, heißt es dort, und über eine Besichtigung von Majdanek mit einer schwedischen Delegation kurz nach der Befreiung: „Ich dachte an diejenigen, die körperlich und moralisch gebrochen waren, die andere Leben verraten hatten, in der Hoffnung, ihr eigenes zu retten. Wie auch immer wir unsere Hälse riskierten, es war unser eigener Wille. Aber sie waren in Knechtschaft, und aller menschliche Stolz war aus ihnen herausgeprügelt. Sie wollten keine Märtyrer sein. Die meisten von ihnen wollten zweifellos nichts anderes, als ihre Tage in einem durchschnittlichen, eintönigen Leben zu verbringen, ohne große Wirkung und ohne Ruhm. Für sie bleibt nichts anderes übrig, als sich zu erinnern und (so) intoniere (ich) wie meine Vorfahren ‚Jisgadal, w’jiskadasch‘, das Kaddisch für die Toten, und wie die echte Gräfin Suchodolska ‚Kyrie Eleison, Christe Eleison‘“.

als Mathematikprofessorin, um 1960

Ein Kommentar zu „Die falsche Gräfin

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