
Shulamit Bat Dori hatte Mitte der 1920er-Jahre im Kibbuz mit dem Schreiben von Kurzgeschichten begonnen, sich aber schnell Theaterstücken zugewandt. 1936 rief sie in ihrem Schauspiel „Ha mishpat“, das sich um einen arabischen Überfall auf einen Kibbuz drehte, zum Frieden zwischen Juden und Arabern auf und übte Kritik an der britischen Herrschaft – mit der Folge, dass die Mandatsbehörden die Aufführung verboten. Von „Ha mishpat“ sind dennoch aus den folgenden Jahren außerhalb Palästinas zumindest vier Inszenierungen bekannt. In englisch- und deutschsprachigen Publikationen heißt das Drama je nach (Rück-)Übersetzung „The Trial“, „The Judgment“, „Der Prozess“, „Das Urteil“ oder „Das Gericht“. Erstmalig wurde es 1938 an der „Nationalen jiddischen Bühne“ in Warschau unter der Regie von Leopold Lindberg in der Übersetzung von Aaron Zeitlin aufgeführt und als „Das Gericht“ dann auch am 8. Mai 1938 vom Theater des Jüdischen Kulturbunds in der Kommandantenstraße in Berlin, der einzigen im Dritten Reich noch erlaubten jüdischen Bühne, an der ausschließlich Juden für Juden spielten durften. Regie führte Fritz Wisten, der hier in der Rolle des Sprechers auch zum letzten Mal als Schauspieler auf der Bühne stand und dessen Inszenierung ein Riesenerfolg war.

Der Rezensent der Jüdischen Rundschau 1939 über den Plot: „…das Land ist von Aufruhr durchtobt. Menschen stehen im Kampf. In diesen Bildern rollt vor unseren Augen ihr Leben und ihr Sterben ab. Es fällt ein junger Juden, ein fällt ein Araber, es fällt ein englischer Soldat. Sie haben einander getötet. Aber warum haben sie einander getötet? Denn das Herz, das unbegreifliche menschliche Herz, das sich von keinem noch so klugen Gerede zum Schweigen bringen lassen will, hört nicht auf nach dem Sinn des Sterbens zu fragen. Es spürt sehr wohl, dass die Spannungen hier nicht im Seelischen wurzeln, sondern im Politischen. (…)“
Der Kritiker des Israelitischen Familienblatts: „(…) Der Schluss gehört der Jugend: ein jüdischer Junge entreißt einem 17jährigen englischen Soldaten das Gewehr, weil dieser auf seinen arabischen Freund anlegt – in der Meinung, ihn beschützen zu müssen. ‚Trenne uns nicht!‘ sind seine Worte. (…)“
Auch der 23-jährige Hans Lamm (nach seiner Re-Migration Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde München) hatte an diesem Abend im Publikum gesessen und anschließend einem Freund geschrieben: „(…) das war tatsächlich ein besonders gewaltiger Abend. Dass wir so was (was Stück wie Aufführung angeht) noch schaffen konnten, kann einen fast stolz und froh machen: das Stück, das scheinbar ,aus Opportunität‘ leider in Palästina selbst noch nicht rauskam (sondern nur in Polen und hier), ist von einer Chawera einer Kwuza, und berichtet vom Tod eines Engländers, eines Juden und eines Arabers in den Unruhen und klärt in höchst geschickt gemachten Szenen die Beweggründe, die die drei Menschen zum Morden führten. Ein höchst reales und echtes, dabei beglückend gerechtes und verstehendes Stück: ich war ausnahmsweise ungleich begeisterter als alle Kritiker, denen es entweder zu unkünstlerisch, oder zu brith-schalomistisch erschien…! Da kannst nix machen.“

Die jüdische Presse war sich jedoch einig: „Der Beifall am Schluss war ungewöhnlich stark, wohl der stärkste, den eine Schauspielaufführung des Kulturbundes seit Bestehen fand (…)“ oder „Diese Aufführung bildet ein Ruhmesblatt in der Geschichte dieser Bühne. Es ist vielleicht die geschlossenste und am höchsten zu bewertende Leistung seit ihrem Bestehen. (…)“
Interessanterweise war „Das Gericht“ auch das einzige zeitgenössische Drama, das der Kulturbund – möglicherweise in der von den NS-Behörden gewünschten Intention, Juden zum Auswandern zu bewegen – gezeigt hat, bis er 1941 zwangsaufgelöst und seine Mitglieder deportiert wurden.

Über eine weitere Aufführung 1940 in Buenos Aires in der Regie von Jakob Buzgan sind nicht mehr als die nackten Daten zu finden, dafür gibt es aber Details über die Inszenierung, die im November 1939 in New York zu sehen war. Hier gehörte das Stück als Gegenwartsbeitrag zum kulturellen Rahmenprogramm des „Jewish Palestine Pavilion“ bei der Weltausstellung und war unter dem Titel „The Trial“ die erste Produktion eines gerade gegründeten „American-Palestine Theatre“ namens „The Balfour Players“, des einzigen jüdischen Theaters in den USA, das auf Englisch spielte, obwohl die Truppe fast vollständig aus emigrierten deutschsprachigen Bühnenkünstlern bestand. Im Fall von Bat Doris Stück übernahm Benno Frank (vorher Wiesbaden, Hamburg, Tel-Aviv) die Regie, Heinz Condell (ehemals Berliner Staatstheater, der schon an der Berliner Kulturbund-Aufführung beteiligt war) die Kostüm- und Bühnenbildgestaltung und auf der Bühne standen u.a. Olga Fuchs (Dresdner Staatstheater), Martha Ferber (Münchener Kammerspiele), Sigmund Nunberg (Deutsches Theater), Rudi Weiss (Wiener Volkstheater) und Berthold Berndt (Jüdischer Kulturbund Berlin).
Im deutschsprachigen „Aufbau“ ist mehr über die ausverkaufte Aufführung am 22. November 1939 im New Yorker Heckscher Theater zu lesen: „(…) Trial, Gericht, wird gehalten über drei Tote, einen jüdischen Siedler, einen arabischen Bauern und einen englischen Soldaten, die bei einem Angriff auf eine jüdische Pflanzung fallen. Wer ist schuld? Die alte Ewigkeitsfrage der Menschheit, die aus dem Publikum der Welt angesichts der Unruhen in Erez aufstieg, wird hier aufgenommen von einer Stimme aus der Höhe, die die Toten ins Leben zurück befiehlt und sie jenen Tag ihres Lebens noch einmal leben lässt, in dem die Ursache ihres Todes beschlossen ist.
Es sind die drei zentralen Szenen des Stückes: wie der Jude den Inhalt seines Siedlerlebens in höchster Steigerung erfährt, als endlich Wasser, neue Hoffnung für neue Siedler, aufschiesst – als Tom sich zu den Soldaten meldet, weil er Haus und Geliebte an die obere Klasse verliert – als Machmud Ali, ein friedfertiger Bauer, von der Lügen seines Sheiks verführt, das Gewehr nimmt. Simpel sind die Vorgänge. So simpel und grausam wie das Leben und hinter jedem simplen Schicksal erhebt sich die höchste Kompliziertheit von Weltproblemen. Die Lösung findet (sic!) der Autor (sic!) Shoschana Bat-Dori in einer Hoffnung, in der Hoffnung auf die Jugend der drei Nationen, die sich, verkörpert durch den Knaben Gideon, den jungen Mustapha und den 17jährigen Rekruten Bill im Unbegreifen des Todes zusammenfindet in der natürlichen Einigkeit der Unschuld gegen das Böse. (…)“

Wer war Shulamit Bat Dori, die Frau, die dieses Stück geschrieben, das politische Theater in Palästina eingeführt und es in die Kibbuzim gebracht hat? Geboren wurde sie als Shulamit Gutgeld. Ihr Vater, Jozef Gutgeld, Sohn eines wohlhabenden ultraorthodoxen Grundbesitzers, war mit 16 Jahren verheiratet worden, hatte mit 21 seine Familie verlassen, einen erfolgreichen Verlag in Warschau gegründet und die gut situierte, assimilierte Helena Gejnsdorf geheiratet, mit der er zwei Kinder bekam: Mordechaj, genannt „Mitek“, und vier Jahre später, am 7. Dezember 1904, Shulamit, genannt „Mita“.
Ihre Eltern gaben Mita die Liebe zu Musik, Theater und Tanz weiter. Sie ging auf ein polnisches Gymnasium, bekam Privatunterricht in Deutsch und Englisch (zuhause wurde Polnisch gesprochen) und begann mit 16 an der Warschauer Universität Philosophie und Psychologie zu studieren. Zeitgleich kam sie über ihren Bruder Mordechaj, der Jura studierte, zum Warschauer Ableger der sozialistisch-zionistischen Hashomer Hatzair-Bewegung. Er war später einer der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung von 1948 und Mitglied der Knesset und nannte sich in Israel Ben Tov – während sie zu Bat Dori wurde. Hier schon, bei Hashomer Hatzair, begann Shulamit, kleine Theaterproduktionen auf die Beine zu stellen, und nachdem Mitek 1920 Alijah gemacht und sich ihr Vater 1922 umgebracht hatte, ging auch Mita 1923 zusammen mit 15 Hashomer-Hatzair-Mitgliedern nach Palästina, um sich dem Kibbuz B anzuschließen, dem späteren Mishmar ha-Emek.

Mita arbeitete als Stuckateurin und als Traktor-Fahrerin und träumte davon, die Welt zu verbessern. Sie war überzeugt davon, dass man mit künstlerischen Mitteln das Bewusstsein der Zuschauer zum Positiven wenden könne. Für den internationalen Arbeiterfeiertag am 1. Mai 1925 schrieb und inszenierte sie ihr erstes Theaterstück – „Brot“ – in Erez Israel. Schon hier zeigte sich das Faible der Regisseurin für Massen-Inszenierungen und instrumentelles Theater; in der Aufführung trat die Hälfte der 80 Kibbuz-Mitglieder auf und der anwesende amerikanische Schriftsteller Waldo Frank war erstaunt darüber, „am Ende der Welt“, mitten in einer unwirtlichen, noch kaum bebauten Wüstenlandschaft eine so innovative Inszenierung vorzufinden.
Bemerkenswert für Dritte war auch Shulamits große Energie, ihr Eifer und ihr freizügiger Lebensstil, der sich einem zentralen Gesprächsthema im Kibbuz entwickelte. Sie führte bis tief in die Nacht ekstatische Tänze oder Pantomimen bei Kerzenlicht für die Leute auf und sie lebte mit Jaakov Hasan (später Mapam-Führer und Knesset-Mitglied), den sie schon aus Warschau kannte, in einem „Familienzelt“ zusammen. Ebenfalls noch 1925 ging Shulamit mit Jaakov für zwei Jahre als Gesandte von Hashomer Hatzair nach Polen zurück. Sie beriet junge Frauen in den Zweigstellen der Bewegung und veröffentlichte 1926 im Warschauer Verlag „Zentralsumerische Genossenschaft“ die Broschüre „Zur Mädchenfrage in Erez Israel“, in der sie u.a. die abwertende Haltung der Pioniere gegenüber Frauen kritisierte und forderte, dass Frauen in „Männer-Berufen“ arbeiten sollten; sie glaubte an Unabhängigkeit und Gleichheit und war eine radikale Feministin. (Ihr Freund Hasan begann zu dieser Zeit in Warschau eine Affäre mit einer anderen Frau, Berta Abramowitz, die dann auch seine Frau und die Mutter seiner Kinder wurde; doch die Dreiecksbeziehung hielt noch viele Jahre an, bis Shulamit 1939 Reuven Ziv heiratete, und zwei Kinder mit ihm bekam – Yuri, der nur 6 Jahre alt wurde, und Orna, die später das Werk ihrer Mutter fortführte).
Ende 1926 kehrte Mita zurück nach Palästina, arbeitete wieder im Kibbuz und schrieb weiter. 1930 bat sie die Kibbuz-Leitung um ein Jahr Auszeit, um mehr über das Avantgarde-Theater zu lernen. Sie ging nach Berlin, studierte Tanz bei Rudolf Laban, Theater bei Max Reinhardt und wurde Assistentin von Erwin Piscator. Shulamit war begeisterte von Massen- und Agit-Prop-Theater (Bühne ohne Leinwand, wenige Requisiten, aktive Beteiligung des Publikums), lernte Bertolt Brecht und Kurt Weill kennen und bat ihren Kibbuz um eine Verlängerung ihres „Urlaubs“, der schließlich erst 1934 endete. Bis dahin studierte sie weiter Bewegung und Theater in Essen und zog dann nach Wien, um als Assistentin von Max Reinhardt zu arbeiten.
Nach ihrer erneuten Rückkehr nach Palästina änderte Mita ihren Nachnamen von Gutgeld in Bat Dori (Tochter ihrer Generation) und begann im kleinen Matate Theater mit der Schauspielerei. Bald aber war sie wieder in Mishmar HaEmek, um selbst ein Theater zu gründen, das sich im Sinne Brechts politischer Probleme annehmen und dem Klassenkampf dienen sollte. Dazu musste sie allerdings gegen den hartnäckigen Widerstand der Kibbuznikim ankämpfen, die in den 1930er-Jahren die Landwirtschaft als ihre einzige Berufung ansahen. So wurden auch alle ihre Produktionen in dieser Zeit vom Publikum heftig diskutiert – oft noch während der Vorstellung. Ein Stück, das sie 1935 zusammen mit Moshe Lifshitz verfasst hat („When You Came Out a Simple Man“) und in dem es um einen naiven Berliner Neueinwanderer, um Betrug beim Landkauf und um bestochene Richter ging, löste in rechten Revisionisten-Kreisen so lautstarke Reaktionen aus, dass die britischen Mandatsbehörden weitere Aufführungen verboten, genau wie bei ihrem „Ha Mishpat“ bzw. „Das Gericht“…

Es gäbe noch viel zu sagen über Bat Dori, hier in aller Kürze: Sie war eine Pionierin der Bühnenkunst und hat unbekannte Theater-Innovationen nach Palästina gebracht, wie die Verbindung von Inszenierung und Choreografie und dabei ihr Leben lang versucht, neues zu lernen (so besuchte sie noch in den 60er-Jahren Kurse bei Lee Strasberg im Actors Studio in New York und bei Brecht in Berlin). Sie wurde Professorin für Regie und Schauspiel an der Theaterabteilung der Universität Tel Aviv, leitete über viele Jahre Tanzfestivals (auf denen u.a. unbekannte Volkstänze der Juden aus Libyens und aus dem Atlasgebirge gezeigt wurden) und saß in x Theater- und Kulturgremien. Sie war die Erste im Land, die mit „Die Gewehre der Frau Carrar“ ein Brecht-Stück inszeniert hat, schrieb selbst 13 Theaterstücke, inszenierte 15 und schuf mit ihnen eine große öffentliche Gemeinschaft von Zuschauern und Teilnehmern.
Ein Beispiel ist „Achi Gibori HaTila“, eine Adaption von Howard Fasts „My Glorious Brothers“ 1953 in Givat Brenner, in dem sie Parallelen zwischen Israels jüngstem Unabhängigkeitskrieg und dem antiken Makkabäeraufstand zog. Da sie als Kibbuz-Mitglied die Dienste anderer Kibbuznikim in Anspruch nehmen konnte, kam in diesem Fall eine 1000-köpfige Besetzung und eine Crew aus Bauarbeitern, Tischlern, Bühnenbildnern, Schneidern etc. zusammen, die mehr als 3000 Arbeitstage in das Projekt investierten, ein echtes Dorf errichteten, Bäume pflanzten, Hügel und Steine versetzten, Straßen umleiteten und ein Amphitheaters bauten. Die Produktion wurde acht mal und vor ingesamt um die 40000 Zuschauern aufgeführt – eine enorme Zahl, die etwa zehn Prozent der damaligen Bevölkerung Israels entsprach.
Bat Doris Begeisterung für das Massentheater (sie forschte noch bis zum Ende ihres Lebens dazu), mag ein Grund dafür sein, dass sie immer abgelehnt hat, mit konventionellen etablierten Theatern zu arbeiten, deren Räume und Bühnen viel zu klein für sie waren (wobei das „Cameri“ oder das „Ohel“ auch Stücke von ihr aufgeführt haben). Was sie wollte, war ein aktives Theater, eine Art gemeinschaftliche Psychoanalyse, das Bemühen einer ganzen Gemeinschaft vor dem Hintergrund eines realen, historischen Themas und Ortes, aber auch von aktuellen Krisen, die aus der Geschlossenheit der Kibbuz-Welt resultierten. Der Konflikt zwischen unterschiedlichen Werten wie Berufswahlfreiheit und Selbstverwirklichung versus Loyalität und Herrschaftspflicht, warf Fragen auf, die Bat Dori mit Mitteln des Theaters und des Psychodramas zu beschreiben und zu lösen versuchte, in einer Mischung aus realistischen Szenen und dem Extrakt aus Gesprächen, Gedanken, Sehnsüchten und Ängsten der Kibbuznikim. Und sie gab, zum Teil in ironischer Selbstironie, den Kibbuzfrauen eine Stimme, und machte ihre Erfahrungen, ihre Dilemmata als (Ehe-)Frauen und Mütter und ihre Kritik an der (männlichen) Kibbuz-Gesellschaft hörbar.
Shulamit Bat Dori war eine beeindruckende Kämpferin und Träumerin, die auch noch einmal zwei Jahre vor ihrem Tod 1985 als eine der sechs Protagonistinnen in Edna Politis wichtigen Dok-Film „Anou Banou oder die Töchter der Utopie“ als Pionierinn der Einwanderungsbewegung gewürdigt wurde.


was für ein Leben! Danke!
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