
Möglicherweise wurde er am 9. Januar 1895 geboren. Ob das wirklich sein Geburtsdatum ist, ist so unsicher wie der Ort seiner Geburt, sein richtiger Name und weite Strecken seines Lebenslaufs. Was hingegen feststeht, ist, dass „Ha Chacham (der weise) Shushani“ (Chouchani, Shoschani; שושני) eine der mysteriösesten jüdischen Geistesgrößen aller Zeiten war, ein Talmudist, Philosoph und Universalgelehrter mit faszinierenden intellektuellen Fähigkeiten, der ruhelos um die Welt zog und Denker wie. Léon Askénazi, Emmanuel Levinas, Raymond Cicurel und Elie Wiesel maßgeblich beeinflusst hat, und dass er am 26. Januar 1968 beim Talmud-Lehren in Montevideo an einem Herzinfarkt gestorben ist.
Es ist ein Rätsel, warum „Monsieur Shushani“, wie ihn seine Schüler nannten, ein Geheimnis um seine Herkunft gemacht hat und um das, was aus ihn zu einem Sinnbild des „wandernden Juden“ werden ließ. Die Spekulationen gehen von einer unglücklichen Kindheit aus, die nichts anderes kannte als Wanderschaft und Flucht, über eine Familientragödie oder dem Zwang, der feindlichen Welt „anders“ gegenüber zu stehen, bis hin zu einem unstillbaren Bedürfnis, immer neue Jünger um sich zu sammeln. Je nach Hypothese variiert sein Geburtsort von Tanger, Safed und Istanbul bis hin zu diversen Orten in Belarus, Litauen und Polen. Ähnlich ist es mit seinem Namen: Laut Professor Shalom Rosenberg von der Hebräischen Universität, einem seiner Schüler, hieß er eigentlich Hillel Perlman. Laut Élie Wiesel war sein Name Mordechai Rosenbaum (was zum hebräischen Shushan = Rose passen würde, der Vorname könnte aber auch eine Referenz an Mordechai aus der Esther-Geschichte sein, der aus Shushan in Persien stammte). Im uruguayischen Sterberegister wiederum ist er unter gleich drei verschiedenen Namen eingetragen: Mardoqueo Bensoussan, Shushani und Ohnona. Erwiesen ist nur, dass er mehrfach mit falschen Papieren unterwegs war und eifersüchtig darauf geachtet hat, seine ursprünglichen Namen nie preiszugeben; so weigerte er sich, an jüdischen Riten teilzunehmen, bei denen er – wie nach einem Aufruf zur Toralesung – den Namen seiner Vaters hätte nennen müssen.
Wenn Shushani Hillel Perlman war, was bislang als am wahrscheinlichsten gilt, wäre er in Brest(-Litowsk) geboren worden, hießen seine Eltern Manes und Feiga, hätte er schon mit fünf Jahren große Teile der Heiligen Schrift auswendig gekonnt und sein Vater ihn als Wunderknaben gegen Geld auf Jahrmärkten und in Synagogen vorgeführt, hätte den Jungen das angewidert, wäre er geflohen, hätte Mathematik in Beirut studiert, ohne Papiere Marokko und Indien bereist, bei dem berühmten Rabbiner Abraham Isaac Kook in Jaffa und anschließend bei Rabbi Meir Bar-Ilan in den USA studiert und in den 1920er-Jahren in Berlin die Kreise Menachem Mendel Schneersons, des späteren Lubawitscher Rebben, besucht.
Sicher bezeugt ist seine Anwesenheit Mitte der 1930er-Jahre in Straßburg, wo man ihn für einen Bettler hält, und während des Krieges in Paris, wo er jüdische Schüler in der Metro unterrichtet. Zwei Begebenheiten aus der Besatzungszeit hat Shushani seinen Schülern selbst erzählt: Als er 1940 von der Gestapo verhaftet worden war und man bemerkt hatte, dass er beschnitten war, wäre es ihm gelungen, freizukommen, nachdem er behauptet hatte, Muslim zu sein und der hinzugerufene Imam bestätigte, dass er absolut korrekt den Koran rezitierte. Bei der zweiten Verhaftung habe er behauptet, Arier aus dem Elsass zu sein und Mathematik in Straßburg studiert zu haben. Der Nazi-Offizier sei in schallendes Gelächter ausgebrochen und hätte ihm gesagt: „Du hast einen bösen Fehler gemacht; ich bin im Zivilberuf Mathematik-Professor, du kannst mir keine Märchen erzählen“. Daraufhin habe Shushani dem Deutschen angeboten: „Ich stelle ihnen eine mathematische Aufgabe. Können sie die lösen, dürfen sie mich ermorden; wenn nicht, müssen sie mich gehen lassen.“ Der Offizier konnte nicht und ließ Shushani laufen, der dann in die Schweiz floh.
1945 taucht Monsieur Shushani wieder in Paris auf, wo ihn seine Lehrtätigkeit zu einer Legende werden lässt und Schüler, die bei ihm lernen, dazu veranlasst, ihn mit historischen oder religiösen Figuren zu vergleichen – mit einem „Luftmenschen“, mit dem „wandernden Juden“, mit Sokrates oder mit dem Propheten Elias, der in Verkleidung auf der Welt wandelt. Shushani irritiert jeden. Er taucht unerwartet in irgendeiner Stadt oder irgendeinem Land auf und verschwindet genauso überraschend wieder. Er wirkt gleichermaßen abstoßend und anziehend. Er präsentiert sich die meiste Zeit wie ein Penner, schmutzig, ungekämmt und schlecht gekleidet (ist aber aus irgendeinem Grund von Schuhen und von Hygiene besessen, öffnet Türen nur mit dem Ellenbogen und rastet aus, wenn jemand sein Essen berührt).
Doch dieser verrückte „Clochard“ ist ein Genie. Er hat ein phänomenales fotografisches Gedächtnis. Er behält den Inhalt jeden Buches, das er liest, im Kopf (französisch soll er gelernt haben, indem er sich für zwei Wochen mit Wörterbüchern in einem Hotelzimmer eingeschlossen hat). Nach Eli Wiesel beherrschte er etwa 30 alte und moderne Sprachen, darunter Hindi und Ungarisch. Sein Französisch sei makellos gewesen, sein Englisch perfekt und sein Jiddisch habe jeweils mit dem Akzent der Person harmonisiert, mit der er sprach. Der Mann kennt sich wie kein anderer in allen Bereichen jüdischen Wissens aus. Er kann den ganzen Tanach und ausnahmslos alle Gemarot fehlerfrei zitieren, inklusive Erklärungen, Kommentaren und Unterkommentaren, und er gibt neben Talmud-Unterricht Privatstunden in moderner Mathematik, Physik, Astronomie und Kernphysik. Er liest nie aus einem Buch oder von einem Zettel ab; er erscheint an einem Ort, fragt die Anwesenden, über welches Thema er sprechen soll – und tut es, ohne jede Vorbereitung, in einem ununterbrochenen Redefluss und in einer Sprache, die als poetisch beschrieben wird.
Mehr noch als durch die Inhalte seiner Lehre beeindruckt Monsieur Shushani mit seiner Methodik, der Art und Weise, sich Texten zu nähern, dem kritischen, distanzierten Blick und dem Ablehnen jeder frommen Lesart (manche Orthodoxe nennen in einen „Teufel“, dem man auf keinen Fall folgen dürfe; für andere ist er „der Mozart der Theologie“). Shushani schöpft aus dem Text, was nicht im Text enthalten ist, er schlägt seinen Schülern Reflexionselemente vor, an die noch niemand gedacht hat, während sie offensichtlich erscheinen, wenn sie ausgesprochen werden. Dazu gehört, das gesamte Wissen zu verknüpfen, jedes Wort eines talmudischen oder biblischen Zitats abzufragen und es mit jedem Vorkommen in anderen Zitaten zu kreuzen. Dazu gehört, die Gewissheiten der Schüler zu destabilisieren, indem er ihr wissen erst komplett auseinanderpflückt, um es anschließend stückchenweise wieder zu rekonstruieren – dies alles mit beißendem Spott über jene, die glauben, alles zu verstehen, und einer intellektuellen Strenge, die einige Schüler schwer frustriert, und andere in ihrem Glauben erschüttert und zu lebenslangen Anhängern macht.
Der Philosoph Emmanuel Levinas, der da bereits seine Universitätskarriere begonnen hatte, wird fünf Jahre Talmud bei Shushani studieren, ihn „kompromisslos“, „rücksichtslos“ und „wunderbar“ nennen und später sagen: „Ich verdanke Shushani alles, was ich heute veröffentliche“. und der spätere Nobelpreisträger Élie Wiesel, der 1945, nach seiner Befreiung aus dem KZ, für drei Jahre Shushanis Schüler wird, nennt ihn den Meister, der ihn am meisten beeinflusst hat: „Ich weiß auf jeden Fall, dass ich nicht der sein würde, der ich bin, der Jude, der ich bin, wenn mir nicht ein erstaunlicher Landstreicher, verwirrend und verstörend, eines Tages gesagt hätte, dass ich nichts verstanden habe.“ Und: „An seiner Seite lernte ich viel über die Gefahren der Sprache und der Vernunft, über die Ekstasen von Weisen und Wahnsinnigen, über das geheimnisvolle Fortschreiten eines Gedankens durch die Jahrhunderte (…), aber nichts über das Geheimnis, das ihn verzehrte oder vor einer kranken Menschheit schützte.“ Denn schließlich verschwindet sein Mentor – wie immer und überall – auch wieder „ohne Abschied“ aus Wiesels Blickfeld, nur mit den Worten: „Think over my lesson and try to destroy it.”
Man weiß, dass Shushani 1952 mit einem falschen Pass Frankreich verlässt, dass er in Israel in Kibbuzim der Mizrahi-Bewegung unterrichtet und 1955 auf Einladung eines seiner Schüler nach Montevideo geht. Dort bleibt er, nach einem erfolglosen Versuch, nach Argentinien weiterzuwandern, bis zu seinem Tod 1968. Nachdem Elie Wiesel von Shushanis Aufenthaltsort erfahren hatte, schreibt er in einem Aufsatz: „Oft packt mich der Wunsch, das erste Flugzeug nach Uruguay zu nehmen…“, (aber auch:) „ich habe Angst, noch einmal in seine Legende einzutauchen, die uns beide, mich zum Zweifel und ihn zur Unsterblichkeit verurteilt.”
Wer weiß. Vielleicht war ja Chacham Shushani ein „Lamed Wawnik“, einer der „Gerechten“. Nach der Überlieferung gibt es in jeder Generation insgesamt 36 dieser Männer auf der Welt. Niemand weiß, wer sie sind. Sie können klug oder dumm, reich oder arm sein. Die Tatsache, dass sie existieren, hält das Universum am Laufen. Nach Shushanis Tod fand man unter seinen bis heute nur ansatzweise entzifferten kryptischen Manuskripten einen Brief Albert Einsteins, der dazu eigentlich ein passendes Schlusswort enthält: „Eine der schönsten Empfindungen ist die des Mysteriums. Es ist der Ursprung aller Wahrheit. Wer weder überraschen noch Erstaunen kennt, ist tot…“


Yu, wenn Ramona dies nicht gepostet hätte, wäre ich noch dümmer geblieben. Bitte poste wieder auf Facebook. Auch, wenn’s nur der Link ist. Ich vermisse Dich so sehr!!!
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Deine Maria Ossowski. Miss you!!!
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