Anna Heilman, geb. Chana Wajcblum – *1. Dezember 1928 – half dem Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau beim Aufstand vom Oktober 1944

Chana war die jüngste der drei Töchter des gehörlosen Ehepaars Jakub und Rebeka Wajcblum aus Warschau. Ihr Vater besaß eine Holzwerkstatt, in der ausschließlich Gehörlose beschäftigt waren, die beispielsweise Chanukka-Dreidel herstellten Jakubs Firma war sehr erfolgreich, unter anderem zeigte er seine Produkte: 1936 auf der Pariser Weltausstellung. Die drei Mädchen gingen in eine katholische Schule. Nach dem Einmarsch der Deutschen wurde sie der Schule verwiesen und die Ulica Mila, in der sie die Werkstatt befand und wo die Familie auch wohnte, wurde 1940 Teil des Ghettos.

Bald wurde Jakub Wajcblum auch seine Werkstatt weggenommen. Aber er kam auf die Idee, nun Holzkreuze für die Gräber deutscher Soldaten herzustellen, was die Familie eine Zeitlang vor der Deportation schützte. Chanas Schwester Sabina konnte zwischenzeitlich mit ihrem ehemaligen Lehrer, den sie später heiratete, in die Sowjetunion fliehen und nach dem Krieg nach Schweden auswandern.
Die anderen Wajcblums blieben noch bis Mai 1943 in Warschau. Zu diesem Zeitpunkt waren von den ursprünglich 500000 Ghettobewohner bereits 90 Prozent deportiert, an Krankheiten gestorben oder verhungert. Nun wurden auch Jakub, Rebeka, Ester und Chana zum „Umschlagplatz“ gebracht, um nach Majdanek deportiert zu werden.
Anna später: »Wir kamen auf den Umschlagplatz und reihten uns in ein Meer von Menschen ein. Alle saßen auf dem Boden, umklammerten ihre Habseligkeiten, die Familien drängten sich zusammen, wartend. Es schien keine Rolle zu spielen, wie lange wir warteten. […] Dann kamen die Züge und wir wurden auf sie geladen. […] Zwei Tage in geschlossenen Wagen, ohne Wasser oder etwas zu essen! […] Unsere Zungen fühlten sich wie Holzräder in unseren Mündern an. […] Menschen fielen in Ohnmacht und starben, einer auf dem anderen. […] Als wir ausstiegen, waren von den ursprünglich 170 Menschen noch 120 übrig.«
Jakub und Rebeka Wajcblum wurden als arbeitsunfähig sofort ermordet. Die 14-jährige Chana und die 19-jährige Ester wurden im September weiter nach Auschwitz verfrachtet. In Birkenau wurden die Schwestern als Sklavenarbeiterinnen in den Weichsel-Union-Metallwerken eingesetzt, um Zünder für Artilleriegeschosse herzustellen. Ihre Arbeit bestand darin, unter strenger Bewachung die Zünder der Granaten mittels eines kleinen Löffels mit Schwarzpulver zu füllen, das anschließend mit einer Presse festgedrückt wurde.
Irgendwann erfuhren die beiden davon, dass die Häftlinge des Sonderkommandos einen Aufstand planten. Mehrere Frauen taten sich zusammen, und sammelten heimlich Reste von Schwarzpulver. Es gelang ihnen, jeden Tag, eine kleine Menge Sprengstoff, zwei, drei Teelöffel voll, unbemerkt aus der Fabrik zu schmuggeln. Sie packten das Pulver in kleine Stofffetzen, befestigten sie in der Innenseite ihrer Kleidung oder in den Knoten ihrer Kopftücher oder klemmten sie sich unter ihre Achseln.
Die Mitglieder des Sonderkommandos bauten ihre Granaten aus Schuhputzdosen, die sie mit dem Schießpulver aus dem Munitionswerk füllten. Sie wussten, dass sie praktisch keine Chance hatten und sowieso sterben würden (ihre Aufgabe war es, die Ermordeten aus den Gaskammern in den vier Krematorien zu verbrennen; und um keine Zeugen zu hinterlassen, ließ die SS regelmäßig alle Mitglieder umbringen und durch „frische“ Sklaven ersetzen), aber indem sie sich wehrten, hofften sie, ihrem Tod einen Sinn zu geben. Fabrik ins Lager war jedes Mal nervenaufreibend: Ständig mussten die Kameradinnen mit einer Durchsuchung rechnen. Es dauerte fast ein Jahr, bis Ester, Chana und ihre Freundinnen genug Schwarzpulver für die Herstellung der Handgranaten zusammengesammelt hatten.
Am 7. Oktober 1944 wagten sie den Aufstand. Mit Hilfe der Schwarzpulvergranaten gelang es ihnen, das Krematorium IV so stark zu beschädigen, dass es nie wieder benutzt werden konnte. Der Aufstand wurde schnell niedergeschlagen. Fast 250 Häftlinge starben in den Kämpfen, weitere 200 wurden von Wachen exekutiert. Alle am Aufstand beteiligten Sonderkommandos wurden getötet. Die Deutschen spürten auch die Quelle des Schießpulvers schnell auf. Ester Wajcblum und drei weitere Mädchen – Ala Gertner, Rózia Robota und Regina Safirztajn – wurde monatelang in einem Bunker gefoltert, ohne Chana und die mindestens elf weiteren Frauen und Mädchen zu verraten, die das Kommando mit Sprengstoff versorgt hatten (soweit bekannt waren dies „Batsheva“, Marta Cigé, Herta Fuchs, Ruzia Gruenapfel, Chaya Kroin, Eugenie Langer, Regina Ledor, Irka Ogrudek, Raizel Tabakman und Mala Weinstein). Sie gaben ihren Peinigern nur die Namen derer preis, die ohnehin schon tot waren.
Ester schrieb einen letzten Brief an ihre Schwester Chana: „Ich höre die Schritte der Gefangenen, die auf den Boden über mir knallen, das Gemurmel der Menschen, die nach einem langen Arbeitstag zu ihrem Block zurückkehren, um sich auszuruhen. Durch die Gitterstäbe meines Fensters versuchen wenige graue Lichtstrahlen sich einen Weg zu bahnen, die Strahlen des Sonnenuntergangs gebrochen von den Schatten vieler vorbeigehender Füße.
Die vertrauten Geräusche des Lagers – die Schreie der Kapos, die Schreie nach Tee, nach Suppe, nach Brot, all diese verhassten Geräusche scheinen mir nun kostbar und werden so bald verloren sein. Diejenigen hinter meinem Fenster haben noch Hoffnung, aber ich habe nichts; alles ist für mich verloren. Die frohe Botschaft der bevorstehenden Befreiung ist nicht für mich, der Tee ist nicht für mich, der Appell, alles ist verloren und ich will doch unbedingt leben.“
Am 5. Januar 1945 wurden die vier jungen Frauen gehängt. Das gesamte Frauenlager musste der Hinrichtung beiwohnen. Auch die 15-jährige Chana musste zusehen, wie ihre Schwester kurz vor ihrem 20. Geburtstag starb. Sie versuchte sich anschließend mehrfach umzubringen, wurde hospitalisiert und am 18. Januar, als in Reaktion auf den Vormarsch der Roten Armee die Evakuierung von Auschwitz begann, auf einen Todesmarsch zuerst nach Ravensbrück und dann ins KZ Neustadt-Glewe geschickt, wo sie am 2. Mai 45 befreit wurde.
Chana, die ihr Leben lang die Frage gequält hat, ob sie und ihre Schwester das Richtige getan hatten, ob es irgendeinen Sinn gehabt hatte, ihr Leben für eine verlorene Sache zu riskieren, ging nach der Befreiung über Belgien nach Palästina, wurde Sozialarbeiterin, heiratete Hoshua Heilman, bekam zwei Töchter, lebte lange in den USA und verstarb 2011 in Kanada.
Erstes Bild: die Hingerichteten – Ester, Ala, Rózia und Regina.
Zweites Bild: Chana/Anna (l.) mit ihren Schwestern und ca. 2005
Anna im Interview: https://youtu.be/0dry3boists



Mein Herz blutet und meine Seele weint. Immer, wenn ich diese unglaublichen und leider wahren Berichte lese, wird mir bewusst, wie grausam Menschen sein können, wie primitiv und unbarmherzig. Dadurch wird das „Mensch sein“ zur falschen Wahl. Dann möchte ich nicht mehr zu dieser ‚eiskalten‘ Welt gehören.
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